Erfurt eröffnet sein Kulturstadtjahr 2014 und fragt: Wie viele Worte braucht der Mensch? Die Begrüßung: Guten Tag. Hallo. Wie geht’s? Begleitet von dröhnenden Hip-Hop-Klängen durch alle Etagen des Erfurter Rathauses. Im großen Rathausfestsaal feiern diese Woche Akteure und Publikum das Wort, die Sprache, die Rede, den Rap, den Gesang, den Tanz. Unvermeidlich ein Grußwort, aber der anderen Art. Es sei „alles schon gesagt worden“, beginnt der Kulturdirektor der Stadt. Und redet, redet, redet. Im Amtsdeutsch: 200.000 Euro für das Kulturstadtjahr und für 31 Projekte. Ein stolzes Sümmchen für städtische Kulturvereine. Weltberühmte Künstler wie das Ensemble Amarcord aus Leipzig haben auch was davon. Ein Grußwort mit Hegelzitat und einem Gedicht von Kurt Schwitters, die Worte fliegen einem nur so um die Ohren. Das letzte Wort vom Grußwort des Kulturdirektors lautet: Verwendungsnachweis. So viele und vielfältige Worte zu Beginn. Das künstlerische Programm des Abends macht Lust auf mehr Worte und ihren Wert in der analogen und digitalen Welt von heute. Mundart trifft auf Poetry Slam, der Opa und der Enkel im wortreichen Wettstreit auf der Bühne. Wenn der Alte ein bisschen lahm rüber kommt, dann gibt’s ja noch das Smartphone zum Simsen, Twittern, Facebooken und dergleichen digitalen Zeitvertreib. Die Daumen meiner Nachbarin im Publikum fliegen nur so über die Tastatur ihres kleinen Zauberkastens. Ach ja: Die dritten Thüringer Landesmeisterschaften im Poetry Slam finden dieses Jahr, wo sonst?, in Erfurt statt. Letztens in Hamburg, bei den Deutschen Meisterschaften, verfolgten mehr als 5.000 Fans in einer Arena das Spektakel. In Erfurt sollen es mindestens 500 Zuhörer sein, die mindestens genauso spektakeln. Ach so: Im Internet, auf der Seite der Stadt, tummeln sich prominente Erfurter Lokalgrößen, die anlässlich des Kulturstadtjahres mehr oder weniger Worte verlieren. Eine kühne These lautet: „Worte, die mehr als Tausend Bilder sagen!“ Was für eine wunderbare Umkehrung der medialen und digitalen Verhältnisse, wo wir von Bildern nur so überflutet werden. Der Präsident der Uni Erfurt, Kai Brodersen, ist Professor für Antike Kulturen, und er baut auf gebildete Menschen, die Bilder entschlüsseln können. Ein Denkanstoß, der nachdenklich stimmt. Neugierig macht eine originelle Aktion in der analogen Welt, die emotionslos Kreuzworträtsel genannt wird. Ein verlassenes und verwahrlostes Hochhaus mitten in Erfurt wird zur Projektionsfläche, genauer die Fenster des Gebäudes. Sie sollen mit Buchstaben besetzt werden, die Worte und Begriffe bilden, natürlich zum Raten, Knobeln, Denken animierend. Das Pikante an der Aktion: In dem verlassenen Hochhaus wurden einst viele Worte produziert und propagiert, eine Tageszeitung herausgegeben. Ein Anschlag auf eine Säule eines Herrn Litfaß mitten in der Stadt und die Bürger sollen mitmachen. Sie sollen interagieren, wie das Wort jetzt heißt. Ein ernster Spaß, den sich die Künstler Gunter Lerz und C. W. Olafson ausgedacht haben. Sie beginnen gleich damit im Rathausfestsaal, sozusagen die Preview oder wie das so genannt wird. Das Litfaß-Säulen-Oktogon, was für eine Wortschöpfung!, wird enthüllt. Die „farbspektrale Streifung auf acht gleichen Flächen“ haben die Künstler mit Worten besetzt, die assoziativ ergänzt werden sollen. „Das Paradies ist überall …“. Lerz drückt mir den Farbstift in die Hand: „Schreib was dran.“ Na denn: „Das Paradies ist überall, die Hölle auch.“ (mip) Zuerst veröffentlicht in der Tageszeitung Freies Wort (Printausgabe) am 6.Februar 2014, online leider nicht verfügbar. Das Erfurter Kulturstadtjahr 2014