Andy Warhol "Death and Disaster"

Sturzflug in den Tod

Von Andy Warhol  bleiben im öffentlichen Bildgedächtnis vor allem seine Bilder von der überbordenden Konsumgesellschaft. Jetzt führt er uns in deren Abgründe, berührend und verstörend.

.Andy Warhol, „A Woman`s Suicide“, 1962, nach einer fotografischen Vorlage, das erste Desaster-Bild in reiner Siebdrucktechnik.
.Andy Warhol, „A Woman`s Suicide“, 1962, nach einer fotografischen Vorlage, das erste Desaster-Bild in reiner Siebdrucktechnik.

Ein Schatten fliegt von einem Hochhaus hinunter in den Tod. Ein menschlicher Körper, Arme und Beine ausgebreitet. Dahinter die grau-schwarz-helle Fassade des Hochhauses. Eine abstrakte Form, eine anonyme Gestalt, eine aufgeladene Atmosphäre prägt den Moment. Andy Warhol (1928-1987) schuf dieses Bild „A Woman`s Suicide“ 1962 nach einer fotografischen Vorlage, das erste Desaster-Bild in reiner Siebdrucktechnik.

Die Kunstsammlungen Chemnitz mit ihrer energiegeladenen Generaldirektorin Ingrid Mössinger wollten unbedingt eine Ausstellung mit diesem Jahrhundertkünstler machen. 20 Jahre hat es gedauert, jetzt ist die erste europäische Museumsausstellung mit Warhols Werkgruppe „Death and Disaster“ in Chemnitz zu sehen. So viel Tod, Unglück, Sterben, Morden, Töten, Selbsttöten, Trauer, Hoffnungslosigkeit. Einblicke in Abgründe, Zustände und Mißstände.

Kurator Heiner Bastian ist ein ausgewiesener Experte und Kenner des Werks von Andy Warhol.
Kurator Heiner Bastian ist ein ausgewiesener Experte und Kenner des Werks von Andy Warhol.

Mit dem Berliner Kurator Heiner Bastian konnte Ingrid Mössinger einen ausgewiesenen Experten und Kenner des Werks von Andy Warhol für die Ausstellung gewinnen. Und einen guten, langjährigen Bekannten des Künstlers. Bastian wollte unbedingt diese und nur diese Ausstellung machen, weil der manchmal als „oberflächlich“ beschimpfte Andy Warhol hier seine weithin unbekannte und authentische Seite als Mensch und Künstler zeigt.

Der Sturzflug in den Tod, „A Woman`s Suicide“, steht als ein Sinnbild, wie Warhol arbeitete. Ein Foto, oft bereits in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht, dient als Vorlage. Der Künstler seziert einen Ausschnitt daraus, bearbeitet, abstrahiert und verdichtet das Sujet. Oft arbeitet er seriell, indem die Vorlage mehrfach auf einen Bildträger, Papier oder Leinwand, in Siebdrucktechnik aufbringt, mit Bleistift oder Acrylfarbe bearbeitet. So erzielt er suggestive Wirkungen: eingefrorene Momente der Beschleunigung, des Stillstands, der Reflexion und purer Angst. „A Woman`s Suicide“ ist aus 35 einzelnen Bildern komponiert, mehr als sechs Quadratmeter Leinwand. Das berührt jeden einigermaßen wachen Betrachter, der mit Herz und Hirn in dieser Gesellschaft unterwegs ist.

Im Fokus: Jackie Kennedy als „Sixteen Jackies“ (1964) vor und nach dem Mord an JFK. Alle Fotos: mip
Im Fokus: Jackie Kennedy als „Sixteen Jackies“ (1964) vor und nach dem Mord an JFK. Alle Fotos: mip

Die Ausstellung dekliniert menschliches Unglück in vielen Varianten durch. Selbstmord und Mord, an John F. Kennedy. Jackie Kennedy als „Sixteen Jackies“ (1964) vor und nach dem Mord an JFK, Schwarz-Weiss, farbig grundiert, sympatisch offen, in sich zurückgezogen. Alles auf einer Leinwand, Glück und Unglück. Oder die Serie „Electric Chairs“, diese kalte, staatliche Hinrichtungsmaschine, die heute noch in Teilen der USA, nun ja, arbeitet. Durch die Hintergrundkolorierung Orange, Lavendel, Blau und Rot, durch die serielle Aufreihung an einer langen Wand in den Kunstsammlungen in Chemnitz, „verschwindet“ die eigentliche Funktion des elektrischen Stuhl.

Die „Blumenbilder“ in Chemnitz begegneten mir vor zwei Jahren bereits in einer Warhol-Ausstellung in der Kunstgalerie in Klagenfurt. Aber Todesbilder? Die „Flowers“-Siebdrucke (1964/65) interpretiert Kurator Heiner Bastian so: „Die Blüten hatten ein scharfumrissenes, leuchtendes Kolorit und erzeugten vor dem schwarz-grünen Hintergrund eine virtuelle schmerzliche Stille.“ Wiederum benutzt Andy Warhol eine bereits veröffentlichte Fotografie, isoliert das Motiv von seinem Kontext, lässt von dem Blütenbild Siebe herstellen. Bastian sprach in Chemnitz von „Metaphern des Todes“.

Das ist für mich die eigentliche Überraschung. Andy Warhols Unglücksbilder reflektieren Geschichte, und sie sind oft selbst ein Teil der Kunstgeschichte geworden. Aber sie atmen so viel Gegenwart, sie spiegeln so viel über die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und die Menschen, die hier leben, überleben und zurecht kommen müssen.

Die Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz zeigt von einem großen Künstler des 20. Jahrhunderts einen weitgehend unbekannten Teil seines Werkes. Tod und Unglück begleiten Menschen täglich, vor allem massenmedial vermittelt. Sie sind Teil persönlicher Lebenserfahrungen. Andy Warhols Bilder, so kalt, so abstrakt, so verfremdet, so unpersönlich sie sein mögen – sie berühren, verstören, verfolgen den Betrachter bis in die Träume. Das kann nur große Kunst eines großen Künstlers.

Andy Warhol
Death and Disaster
Kunstsammlungen Chemnitz
geöffnet bis 22.02.2015
Di-So, feiertags 11-18 Uhr
Katalog in der Ausstellung 26 €

PS. Leicht bearbeitete Fassung des Beitrages, der zuerst am 08.12.2014 im Feuilleton der Tageszeitung Freies Wort veröffentlicht wurde, hinter der Bezahlschranke.

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