„Winckelmann. Moderne Antike“

Die Wallungen des Fleisches

Was ist schön? Wer ist schön? Johann Joachim Winckelmann suchte Antworten in der Antike und in seiner Zeit. Die wunderbare Weimarer Ausstellung „Winckelmann. Moderne Antike“ überzeugt mit sinnlichen und rationalen Antworten.Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) gilt als Begründer der modernen Archäologie und Kunstwissenschaft. Aber Winckelmann und Weimar? Er studiert im benachbarten Jena 1741/42 ein bisschen Medizin. In Weimar war er nie. Dennoch erheben Goethe und andere Geistesgrößen Winckelmann nach seinem gewaltsamen Tod zum Klassiker, weil er Maßstäbe setzt, indem er Kenntnis über und Deutung griechisch-antiker Kunst bestimmt und prägt –  bis in die Gegenwart. Die Formel „edle Einfalt und stille Größe“ steht verkürzt dafür. Denn Winckelmanns wirkungsmächtige Ausstrahlung in seiner Zeit und bis heute ist vielschichtig und differenziert. Die Weimarer Ausstellung erzählt ganz beeindruckend davon. Auf über 1000 Quadratmeter sind ca. 200 Objekte gekonnt inszeniert.

Lessings Exemplar von Winckelmanns "Kunst des Alterthums" mit seitenlangen handschriftlichen Bemerkungen.
Lessings Exemplar von Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Alterthums“ mit seitenlangen handschriftlichen Bemerkungen.

Gipsabgüsse vom „Torso vom Belvedere“ und von der „Laokoon-Gruppe“. Winckelmanns Erstausgabe in vier Bänden „Geschichte der Kunst des Alterthums“. Darunter das Handexemplar Lessings mit seinen seitenlangen Anmerkungen. Vier Gipsabgüsse mit Beispielen stilbildender antiker und nachgeahmter Kunst, definiert von Winckelmann, ausgestellt in der Preller-Galerie mit den bekannten Wandbildern zur Odyssee. Allein diese kurze Aufzählung macht deutlich, welcher Kosmos an sinnlichen Eindrücken und vielfältigen Informationen den Besucher erwartet. Ein Apoll darf auch berührt, gestreichelt, liebkost werden.

Blick in die Preller-Galerie im Neuen Museum Weimar.
Blick in die Preller-Galerie im Neuen Museum Weimar.

Winckelmann stammt aus einfachen Verhältnissen. Er entwickelt sich vom bildungsbesessenen Schüler, Studenten, Hauslehrer, Bibliothekar zum enzyklöpädischen Büchergelehrten. Er wird spätestens mit seiner Ankunft in Rom 1755 ein anerkannter, verehrter und vergötterter Archäologe, Kunstwissenschaftler und europaweit anerkannter Bestsellerautor. Bis heute gelten seine Bücher und Schriften in vielen Bereichen der europäischen Kultur- und Ideengeschichte als Standardwerke, auch wenn er zuweilen irrte.

Der erste Teil der Ausstellung ist Winckelmanns Leben und Arbeitsweise gewidmet. Teil zwei fragt nach seiner Ausstrahlung auf nachfolgende Generationen. Fünf Bände füllen allein Lesenotizen, eine Leihgabe aus Paris. Die ca. 7500 handschriftlichen Seiten hat Kuratorin Elisabeth Décultot gelesen und wissenschaftlich ausgewertet. Die Inhaberin der Humboldt-Professur an der Uni Halle/Saale hat auch ein sehr sinnliches Verhältnis zu Winckelmann und zur Antike, wenn die Französin charmant von den „Wallungen des Fleisches“ spricht und so die Rückenansicht des Torsos vom Belvedere beschreibt.

Torso vom Belvedere. Gipsabguss aus dem Bestand der Uni Göttingen. Alle Fotos: mip
Torso vom Belvedere. Gipsabguss aus dem Bestand der Uni Göttingen. Alle Fotos: mip

Im vorzüglichen Katalog werden ca. zwei Drittel der rund 200 Ausstellungsobjekte vorgestellt, kunst- und kulturhistorisch eingeordnet, sie sind sehr gut fotografiert bzw. reproduziert. Da wird Winckelmanns Beschreibung von großer sprachlicher Eleganz  über den Torso vom Belvedere zitiert. Die erstmals zusammen ausgestellten drei großen zeitgenössischen Ölporträts von Winckelmann und weitere Porträts werden in den  Kontext der Zeit gestellt. Der Brückenschlag zur zeitgenössischen Kunst gelingt Francesco Vezzoli (geb. 1971) mit dem selbstironischen „Self-Portrait as Apollo del Belvedere´s Lover“.

Die Ausstellungsmacher überzeugen mit dem Perspektivwechsel in die Gegenwart. Da ist ein interaktives „Schönheitslabor“ eingerichtet, in dem Jugendliche aus Weimar ihre Schönheitsvorstellungen und -ideale vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne mit Schwerpunkt Bauhaus anhand von Zeichnungen, Fotos und kleinen Kunstobjekten vorstellen und verbal formulieren. Für junge Leute wird ein umfangreiches Vermittlungsprogramm angeboten inklusive einer Tagung „Schönheitsvorstellungen auf dem Prüfstand“. Die Rezeption und Vereinnahmung von Winckelmanns Kunst- und Weltverständnis bis in die Gegenwart wird beispielhaft thematisiert: in der NS-Zeit, die Winckelmann-Ehrung 1967/68 in der DDR oder seine androgyne Ästhetik, die bis heute zeitgenössische Künstler, Gender-Fragen und die Homosexuellenbewegung beeinflusst.

Für die Ausstellung „Winckelmann. Moderne Antike“ im Neuen Museum Weimar sollte der Besucher genügend Zeit mitbringen. Sie ist im besten Sinne ein überbordendes Bildungsangebot von der Antike bis in die Gegenwart. Sie ist sinnlich, anschaulich, informativ und vielleicht Anstoß für eine Reise an die Ursprungs- bzw. Ausstellungsorte der Originalobjekte wie den „Torso vom Belvedere“ und die „Laokoon-Gruppe“ in den Vatikanischen Museen in Rom.

Der Text erschien zuerst im Feuilleton der Tageszeitung Freies Wort in Suhl und ist leider nicht auf der dortigen Website verfügbar.

WE KSW Winckelmann in FW 2017-04-21

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