Blick-Genuss-Pausen über die Alpen

In sieben Tagen wandern wir von Gmund am Tegernsee über den Alpenhauptkamm nach Sterzing in Südtirol. Das heißt 105 km zu Fuß, ca. 3,5 km immer bergauf, kurze Teilstrecken mit Bergbahn, Bus oder Bahn. Ein anstrengendes Erlebnis mit Blick-Genuss-Pausen. 

Alpenpanorama.

Auch das noch. Der Regen prasselt mit Wucht durch die dichten Baumkronen auf den Waldboden. Wir wandern von Wildbad Kreuth nach Achenkirch, von Bayern nach Tirol, über die 1.540 m hohe Blaubergalm. Erst durch den Wald, dann auf dem Grenzkamm. Über 17 km und 850 Höhenmeter führt die zweite Etappe.

Das ist die anspruchsvollste Tagestour auf unserer Alpenüberquerung, kündigt Wanderführer Andreas aus Tirol der Gruppe am Vorabend an. Sein dringender Rat: Zieht Regenhosen und Regenjacken an. Dauerregen und ein Temperatursturz um ca. 20 Grad sind angesagt. Es kommt auch so. Die traumhaften Ausblicke bis hin zu den Zillertaler Alpen werden von Nebelschwaden, Dunstschleiern und Dauerregen versperrt.

Ist das die Genusswanderung, die wir uns vorgestellt haben? Ingrid aus unserer Wandergruppe, Mitte 60, aus der Nähe von Bremen, sagt später: „Gut, dass es am zweiten Tag so geregnet hat. Auf den schmalen Kammwegen in über 2.000 m Höhe hätten wir eher Probleme bekommen.“ Der einzige Regentag auf unserer Tour verhagelt der Wandergruppe überhaupt nicht die Stimmung. Im Gegenteil.

Fröhliche Grenzgänger.

Am Grenzübergang von Bayern nach Tirol will uns Wanderführer Andreas hinter die Fichte führen. „Passkontrolle!“, ruft er laut in den Wald, er habe auch die Lizenz, unsere Ausweise zu überprüfen. Wir lachen laut auf: hahaha. Andreas macht Fotos von unserem Grenzübertritt und schaut in lauter fröhliche Gesichter. Obwohl fast alle nass sind bis auf die Haut.

„Die Alpenüberquerung“ mit dem großen „Ü“ auf den Wegweisern, mit Hashtag # im Internet auf allen Social-Media-Kanälen, ist ein ausgewiesener Bergwanderweg für geübte und durchschnittlich trainierte Menschen jeden Alters. Der Jüngste in unserer Gruppe mit 23 Jahren und einer der Sportlichsten ist Dennis aus Koblenz. Der Älteste mit 76 und einer der Fröhlichsten ist Gerhard aus Paderborn. Beiläufig erzählt er, dass er ein Leben lang schon wandert. Vermutlich hat er, alle Wanderkilometer zusammengezählt, die Erde schon einige Mal zu Fuß umrundet. Konditionell ist er topfit. Und jetzt über die Alpen? „Das ist kein Probelm, das ist zuerst eine Kopfsache.“

Wanderführer Andreas in Aktion.

Immer wieder ertönt von Wanderführer Andreas das schöne Wort „Blick-Genuss-Pause“. Wir wandern am dritten Tag oberhalb des Achensees am Westufer entlang vom Ort Achensee nach Maurach. Dieser Tag bringt uns eine Flut an unvergesslichen Bildern und Eindrücken inmitten einer wunderbaren Landschaft mit den nahen Berggipfeln, dem sich lang streckenden See unter und vor uns, dem grünen Gürtel ringsherum. Das helle Sonnenlicht fällt auf die Wasserfläche und reflektiert sie. Der schmale Wanderpfad verlangt unbedingt Aufmerksamkeit, er führt immer wieder steil hoch und herunter. Also sind „Blick-Genuss-Pausen“ angesagt: zum Schauen und Durchatmen, Bilder und Landschaft aufsaugen, mit Zeit für Fotos und kurze Videos.

Ganz nah dem Achensee.

In Fügen in Tirol beziehen wir am späten Nachmittag unser Vier-Sterne-Hotel. Die Koffer stehen in den Zimmern. Das gehört hier zum Service beim Gepäcktransport. In unserer Wandergruppe ist das für alle ein entscheidendes Argument: Hotels mit gut ausgestattenen Zimmern, mit Sauna, Sprudel- oder Schwimmbad, um nach sechs oder neun Stunden auf den Beinen zu relaxen. Ein kräftiges, abwechslungsreiches Frühstück ist Standard, bis zu fünf Gänge aus der guten regionalen Küche werden abends serviert. Zwei Stunden essen und trinken, miteinander reden, den Tag Revue passieren lassen. So eine geführte Gruppenwanderung über sieben Tage bringt 15 Menschen aus ganz Deutschland  mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen zusammen. Unsere Gruppe ist ein Glücksfall, stellt sich heraus.

Mit der Spieljochbahn überwinden wir am Morgen des vierten Tages in 13 Minuten bequem etwa 1.100 Höhenmeter. Noch ein paar Meter mehr und das nächste Gipfelfoto ist fällig. Jetzt geht’s richtig los auf dem Kammweg, der ist schmal und abschüssig. Konzentration ist gefragt, ein sicherer Tritt, schwindelfrei sollte man sein. Einige von uns benutzen Trekkingstöcke für die Anstiege und um sich an den schmalen Stellen abzusichern. Der richtige Rhythmus beim Gehen ist wichtig. Jeder muss sein eigenes Tempo laufen. Bergfexe und sportliche Wanderer überholen, ohne uns zu gefährden. Das ist ein ehernes Gesetz hier oben, sich respekt- und rücksichtsvoll zu begegnen. Blick-Genuss-Pausen sind wieder angesagt. Weite, faszinierende Ausblicke ins Zillertal, das Karwendel und Rofangebirge bis zum Wilden Kaiser sind möglich. So eine Rundumsicht, so viel Sonne und gute Laune sind unter uns.

Blick-Genuss-Pause am Sidanjoch.

Die fünfte Tagestour führt uns dem Himmel ein Stück näher, 2.000 m hoch und mehr. Sie beschert uns so viele Eindrucke für alle Sinne und strengt auch ein bisschen an. Das sind nur 11 oder 12 km, aber rund 1.000 Höhenmeter. Wanderführer Andreas überzeugt die Gruppe, nach der Mittagseinkehr in der Rastkogelhütte den kurzen steilen Anstieg hoch über Mitterwandskopf und Rauhenkopf zum Arbiskopf zu nehmen. Konzentrieren, hinschauen, wo man hintritt und oben auf dem Kamm das 360-Grad-Alpenpanorama einfach nur genießen. In einer Blick-Genuss-Pause.

Vom Schlegeisspeicher in ca. 1.800 m Höhe startet die sechste Tagestour. Sie führt über den Alpenhauptkamm und die Grenze von Österreich nach Italien, von Tirol nach Südtirol. Je höher wir kommen, desto mehr Nebel umgibt uns. Auf dem Pfitscherjoch ist die Aussicht gleich Null. Statt dem steilen Abstieg entschließt sich die Mehrheit der Gruppe für den viel längeren, aber entspannten Weg hinunter ins Pfitschertal. So bleibt Zeit zum verweilenden Schauen ins Tal und auf die Gipfel, für gute Gespräche mit den Wanderfreunden.

Nach dem Einlaufen am ersten, jetzt das Auslaufen am letzten, siebten Tag. Gemütlich geht’s nach Sterzing, der nördlichsten Stadt Italiens, über Wiesen, Waldwege, auch ein bisschen Asphalt treten ist unumgänglich.

Vierzehn Alpenüberquerer und Wanderführer Andreas ganz rechts.
Der fünfzehnte Alpenüberquerer fotografiert gerade. Alle Fotos: miplotex

Geschafft! Wir sind jetzt 15 Alpenüberquerer mit Urkunde und Anstecker. Barbara, Anfang 60, aus der Nähe von Frankfurt/Main und solo in der Wandergruppe unterwegs, strahlt still und glücklich in sich hinein. Für alle ist die Alpenüberquerung ein lange nachwirkendes, sinnliches, emotionales und auch anstrengendes Erlebnis in den Bergen, in der Natur und mit neuen Wanderfreunden. Das passt.

Die Reportage in der Wochenendbeilage der Verlagsgruppe HCS. Screenshot: miplotex

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