Architekt im Olymp der Moderne

Die „intellektuelle Biografie“ von Winfried Nerdinger über den Bauhaus-Gründer Walter Gropius beschreibt kritisch-distanziert und doch voller Sympathie das Lebenswerk einer Lichtgestalt. Dem Leser bleibt der Architekt Gropius irgendwie fremd.

Vor der Buchpremiere im Bauhaus-Museum Weimar.

Noch ein Buch über das Bauhaus im Jubiläumsjahr. Noch eine Biografie über Walter Gropius (1883-1969), der auf dem Buchcover mit durchgeistigtem, entrücktem Blick vor einer Hochhausfassade am Leser vorbei in eine visionäre Zukunft schaut. Die ganzseitige Foto-Collage lässt der gerade berufene Harvard-Professor bei seiner Ankunft im Frühjahr 1937 an die amerikanische Presse verteilen. Das Foto zeigt Gropius vor der Zeichnung für ein Büro- und Verwaltungsgebäude der Zeitung „Chicago Tribune“. Das Architekturbüro Gropius beteiligt sich 1922, da befindet sich das Weimarer Bauhaus in einer tubulenten Umbruchphase, an einem internationalen Wettbewerb. Den Auftrag bekommt Gropius nicht. 15 Jahre später lautet die Botschaft: Jetzt komme ich selbst und bringe endlich die moderne Architektur nach Amerika.

Der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger ist einer der besten Kenner von Leben und Werk von Walter Gropius. Während der ersten Buchvorstellung im Weimarer Bauhaus Museum berichtet Nerdinger u. a. von einem Forschungsaufenthalt 1979/80 an der Harvard Universität in Cambridge, wo er im Archiv des Busch-Reisinger-Museums der Universität und im Privatarchiv von Gropius umfassend recherchieren, Zeichnungen, Briefe und weitere Dokumente einsehen konnte. Die „intellectual biographie“, wie Nerdinger formuliert, will „rekonstruieren, was von der Zeit aufgenommen wurde und wie es sich im Denken von Gropius und in dessen Architektur zu erkennen gibt.“

Für den Leser, der kein Architekt oder Bauingenieur ist, legt der Autor die fachliche Meßlatte hoch. Darunter leiden dann Lesbarkeit und Verständlichkeit des Buches, wenn Architekturprofessor Nerdinger lang, breit und detailliert über Entwürfe, Zeichnungen, Planungen und Theorien schreibt. Die oft kritisch-distanzierte Haltung des Autors zu vielen Bauprojekten von Gropius ist irgendwie nachvollziehbar, vor allem dann, wenn er zeitgenösssiche Kritiker zitiert oder wenn Projekte des Büros Gropius erst gar nicht gebaut werden, weil Auftraggeber davon nicht überzeugt sind. Nerdinger stellt am Anfang seines Buches klar, dass Gropius zwar nicht zeichnen konnte, aber als Ideengeber und Inspirator, als Autor und Vortragsredner eigenständige, bleibende Beiträge zu einer Architektur der Moderne geleistet habe.

Aufmerksame Zuhörer und Leser lauschen dem Autor.

Überhaupt: Was sind schon zwei abgebrochene Architekturstudiengänge in München und Berlin, kein Berufsabschluss als Architekt? Die Berufsbezeichnung Architekt ist ungeschützt. Wer ein Architekturbüro unter seinem eigenen Namen eröffnet und betreibt, hat alle Rechte an den Entwürfen und Architekturen, auch wenn fachlich qualifizierte, kompetente Mitarbeiter vielleicht entscheidend beteiligt sind. Das Bau- bzw. Architekturbüro Gropius ist der Architekt Walter Gropius, der nach 1945 zwölf Ehrendoktortitel verliehen bekommt und weltweit höchste Ehrungen erhält.

Bleibende Verdienste von Gropius stellt Winfried Nerdinger explizit heraus. Die sind heute, kein Zufall, mit dem Titel UNESCO-Weltkulturerbe geadelt. Den Auftrag für die Gestaltung der Fagus-Fassade in Alfeld bei Hannover, einer Schuhleistenfabrik, vermittelt dem 28jährigen Gropius sein Schwager, der Landrat Max Burchard. Nerdinger beschreibt ausführlich die „völlig neuartige, architektonisch wegweisende Lösung“. Zum ersten Mal in der Baugeschichte wurde „ein Großbau ohne stützende Eckelemente ausgeführt und so eine völlig neuartige optische Lösung erzielt“. Wie „Gropius zu dieser Lösung fand, ist nicht bekannt“, bemerkt Nerdinger.

Zu den großen Verdiensten von Gropius gehört die Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar 1919. Nerdinger beschreibt, welche Ideen von wem in das Gründungsmanifest eingehen, wie Gropius das Programm redigiert und Personal rekrutiert. Bei seiner Buchlesung in Weimar unterscheidet der Historiker vier verschiedene „Bauhaus-Typen“, die er mit den Namen von Johannes Itten, Gropius, Hannes Meyer und Mies van der Rohe verbindet. „Das Bauhaus ist Geschichte“, es heute noch „als lebendige Einrichtung“ zu bezeichenen, sei „Unfug“, genauso der Begriff „Bauhaus-Architektur“. Das „Bauhaus“ sei zum Stilbegriff für ornamentloses Design in der Architerktur geworden, das könne man nicht mehr zurückdrehen, grummelt der Autor bei seiner Buchlesung in Weimar.

Nachts nach der Lesung vor dem Bauhaus-Museum Weimar.

Die dritte große Leistung des Architekten der Moderne, Walter Gropius, sieht Winfried Nerdinger im Entwurf des Bauhausgebäudes in Dessau. „Die verschiedenen Funktionen sind in fünf Bauteilen zusammengefasst, von denen jeder eine eigene charakteristische Form und Fassadengestaltung aufweist“, beschreibt er die Qualität des Entwurfs. An anderer Stelle formuliert Nerdinger, dass die weißen Baublöcke „fast in der Luft schweben“, nachts der Bau „wie ein leuchtender Kristall“ über dem unsichtbaren Sockel erscheine. Besucher des neuen Bauhaus-Museums in Dessau dürften bei der modernen Glasarchitektur und dem sich permanent ändernden Lichteinfall heute vergleichbar emotional assoziieren.

Bevor er an die Harvard-Universität berufen wird, dem „Glücksfall seines Lebens“, adoptieren Gropius und seine Frau Ise 1936 die zehnjährige Beate, Tochter der gerade verstorbenen Schwester von Ise. Beate, genannt Ati, studiert am Black Mountain College in Ashville beim ehemaligen Bauhaus-Meister Josef Albers. Sie wird in den USA eine bekannte Designerin, bewahrt und verbreitet das Erbe ihres Vaters, propagiert die Bauhaus-Ideen. Sie reist 1999 aus den USA nach Erfurt zur Namensgebung der Walter-Gropius-Schule. Ati Gropius Johansen (1926-2014) kommt danach jährlich zu Besuch, gibt an der Berufsschule Kurse in Farbenlehre und Gestaltung.

Als Walter Gropius am 5. Juli 1969 im Alter von 86 Jahren in Boston stirbt, werden ihm in Deutschland ehrende und oft hymnische Nachrufe zelebriert. In den USA ist das öffentliche Gedenken freundlich. Die New York Times titelt allerdings leicht spöttisch: „He was not irrelevant.“ „Er war nicht ganz unbedeutend.“ Der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger schreibt im letzten Satz des Buches, dass Walter Gropius der Ruhm nicht genommen werden kann.

Das Buch:
Winfried Nerdinger „Walter Gropius. Architekt der Moderne“
C.H.Beck 2019
| 423 Seiten mit 58 Abbildungen | 28 Euro

Der Text erschien zuerst gedruckt in der Tageszeitung Freies Wort
und wird hier erstmals online veröffentlicht. Fotos/Screenshot: miplotex

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