„Der philosophische Superstar fliegt jetzt durchs Netz zu Ihnen und Euch.“ Das twittert die Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, Ulrike Lorenz, letzten Freitag. Sie kündigt einen „Parcours der Moderne digital“ mit Friedrich Nietzsche Superstar an. Ein Parcours mit vielen Hindernissen.
Die Museen der Klassik Stiftung Weimar sind wegen des Coronavirus geschlossen, wie alle Museen im Land. Also werden virtuelle Zugänge und Rundgänge in Ausstellungen und Sammlungen der Museen eingerichtet, die Schätze und Objekte digital präsentiert. Das Coronavirus beschleunigt die Digitalisierung in Thüringer Museen, denn sie wollen jenseits ihrer physischen Existenz für ihre Besucher wahrnehmbar bleiben.
Die Weimarer Ausstellungen, Präsentationen und Vermittlungsangebote zu „Nietzsche Superstar. Ein Parcours der Moderne“ waren als ein inhaltlicher Schwerpunkt der Klassik Stiftung im Jahr 2020 geplant, auch mit digitalen Angeboten. Jetzt stellen sie die gesammelten Online-Angebote ins Netz, das heißt vor allem auf die letztes Jahr grundlegend modernisierte Website der Klassik Stiftung. Friedrich Nietzsche für ein virtuelles Publikum: Statt im Goethe-Schiller-Archiv, statt in der Anna-Amalia-Bibliothek oder statt im Museum, im Nietzsche-Archiv, nun als digitale Präsentation in sieben Kapiteln, in sieben Stationen, über sieben Brücken muss der Besucher gehen. Ein Parcours der Moderne mit vielen Hindernissen.
Die große Eingangstür ins digitale Museum für Friedrich Nietzsche (1844-1900) führt auf die Website der Klassik Stiftung, wie überhaupt die eigene Internetseite das digitale Herz jeder Kulturinstitution sein sollte. Die erste Station dort ist gleich mit „Nietzsche liest“ überschrieben. Der nicht wissenschaftlich vorgebildete virtuelle Besucher ist irritiert. Gehören nicht erstmal ein paar Grundinformationen zu Person, Leben und Werk von Friedrich Nietzsche an den Anfang eines virtuellen Rundgangs? Diesen Rundgang gibt es nicht, stellen wir nach über zweistündigem Klicken, Scrollen, Zoomen, Lesen, Hören und Schauen im Netz fest. Ist das eine falsche Erwartungshaltung, die im physischen Museumserlebnis wurzelt? Wer wird hier überhaupt angesprochen im digitalen Museum? Eine überwiegend jüngere Zielgruppe, wie oft betont wird? Bleiben ältere, klassische Museumsbesucher einfach außen vor?
Wir lesen auf der Website: „Nietzsche liest. Nietzsche schreibt. Nietzsche komponiert. Doch wer war er eigentlich und woher stammt sein Kultstatus?“ Die Frage wird hoffentlicht irgendwann beantwortet. Nietzsche liest – dieses Ausstellungskapitel präsentiert auf der Website 25 Digitalisate: Buchseiten mit „Lesespuren“: Randnotizen und Kommentare, Bücher aus Nietzsches Bibliothek, knappe Texte mit akkuraten Quellen- und Copyrightangaben versehen, für Wissenschaftler relevant.
Hier testen wir schon mal das digitale Angebot auf unterschiedlichen Endgeräten: Desktop-Computer, Tablet und Smartphone. Internetnutzer, nicht nur die Jungen, sind ja gut und modern ausgestattet. Der Schriftlauf verrutscht auf dem Tablet. Das Smartphone, obwohl mit beachtlicher Bildschirmgröße und Auflösung, ist zu klein für die Feinheiten der Digitalisate. Aber das nur nebenbei.
Zweites Kapitel auf der Website, der „Kampf um Nietzsche“, die neue Dauerausstellung im Weimarer Nietzsche-Archiv, das vorerst geschlossen bleiben muss. Wechsel zur App „Bauhaus+“ und zum Smartphone. Über diese Brücke gehen wir ganz erwartungsvoll. Diese Anwendung ist letztes Jahr sehr gut von Besuchern der drei Weimarer Bauhaus-Museen angenommen worden. Nietzsche schlüpft also unter das Dach „Bauhaus+“, ein Update noch schnell heruntergeladen und los geht’s. Da haben wir schon das Dilemma. Die App funktioniert gut und selbsterklärend, ist informativ. Aber sie ist nur von praktischem Nutzen in Verbindung mit dem physischen Besuch der Ausstellung, also vor Ort im Nietzsche-Archiv in der Weimarer Humboldtstraße 36. Die Adresse fehlt hier, ein Navigationstool wäre auch gut. Nach dem Klick auf den Link folgt eine Fehlermeldung, kann passieren.
Wir testen noch schnell das angebotene „Spiel mit Nietzsche!“ für „Alle und Keinen“. Halt, erst noch eine Software herunterladen, danach geht´s los. Die Schatzsuche „in der Welt des Geistes“ ist was, nun ja, zur Entspannung für, nun ja, kleine und große Geister. Der Sound nervt uns, schnell raus hier, ist ja nur der Prolog. Das ganze Spiel funktioniert auch nur in der physischen Ausstellung.
Unter den Akteuren des Nietzsche-Archivs taucht, selbstverständlich, Friedrich Nietzsche auf. Auf dem Smartphone kann der Nutzer jetzt grundlegende Informationen lesen, die er zu Beginn erwartet hat. Warum Nietzsche ein „Superstar“ ist und „Kultstatus“ genießt, wird nicht klar.
Die App bietet noch ein Video-Interview mit Lothar Ehrlich an. Der emeritierte Professor berichtet in knapp vier Minuten über die Nietzsche-Rezeption in der DDR. Das klingt in der Kürze spannend, wäre eine ausführliche Geschichte oder eigene Ausstellung wert.
Die anderen fünf Kapitel Nietzsche digital müssen wir hier, aus Platzmangel, kurz abhandeln. Im verlinkten Blog der Klassik-Stiftung finden sich Lesetexte von Helmut Heit, seit 2019 Leiter des Weimarer Nietzsche-Kollegs, Abhandlungen über Nietzsche als Komponist, ergänzend zur Ausstellung im Goethe-Schiller-Archiv, zur Weimarer Nietzsche-Bibliographie, die seit 1867 wissenschaftlich bearbeitet wird. Der User kann in viersprachigen digitalen Nietzsche-Ausgaben und im digitalen Briefwechsel stöbern und lesen, für Experten bestimmt eine Fundgrube. Sogar das Nietzsche gewidmete Jahrbuch der Klassik-Stiftung 2020 kann als PDF-Ausgabe komplett von der Website heruntergeladen werden.
Der „Parcours der Moderne digital“ zu Friedrich Nietzsche in Weimar ist einer mit vielen Hindernissen. Das „heiße Bemühen“ der Klassik-Stiftung wird deutlich, in Zeiten geschlossener Museen virtuelle Besucher auf ihre digitaliserten Schätze aufmerksam zu machen. Sie verfügt personell und finanziell über die nötigen Ressourcen, anders als die meisten anderen Museen in Thüringen. Sie macht noch zu wenig daraus. Und zu wenig mit Blick auf jene Besucher und Nutzer, die sie erreichen will.
Was möglich und machbar ist, zeigt die Ausstellung „Du bist Faust. Goethes Drama in der Kunst. Ein virtueller Rundgang“. Vor zwei Jahren in München zu sehen, jetzt immer noch auf der Website der Klassik-Stiftung. Ein toller virtueller Rundgang.