Bachs himmlische Musik im mythischen Ort

Die historische Weimarer Schlosskapelle brannte 1774 ab. Sie ist virtuell architektonisch und akustisch wieder auferstanden mit Bachs Kantate „Himmelskönig, sei willkommen“.

Der Hörer und Besucher kann im virtuellen Kirchenraum mit einem Klick den Platz wechseln. Er sitzt mal ganz oben an der Orgelempore, mal unten im Kirchenschiff. Bachs wunderbare Kantate klingt an jedem Sitzplatz anders. Das ganzheitlich-sinnliche Erlebnis überzeugt. Der Autor durfte die Virtual-Reality-Anwendung vorab testen.

Christoph Drescher, Leiter der Thüringer Bachwochen, ist immer auf der Suche nach authentischen Orten, wo JSB, Johann Sebastian Bach (1685-1750), zu seinen Lebzeiten musizierte. Thüringen ist Bachland, hier verbrachte er an sechs Orten fast ein halbes Musikerleben. In Weimar wirkte JSB von 1708 bis 1717 als Hoforganist. Die Schlosskapelle, „Der Weg zur Himmelsburg“, muss ein mythischer Ort für Bach gewesen sein, der ihn in seinem Schaffen als Komponist und Organist prägte. Mit diesem Wissen und einer Idee klopfte Christoph Drescher an Türen von möglichen Partnern, um die verbrannte Schlosskapelle architektonisch und akustisch wieder auferstehen zu lassen –  als ein Virtual-Reality-Erlebnis.

Test der VR-Anwendung im Labor der FH Erfurt.

Die Thüringer Tourismusgesellschaft TTG, Informatiker und Akustiker der FH Erfurt und der TU Berlin sowie das Ensemble Cantus Thuringia & Capella haben gemeinsam mit den Thüringer Bachwochen die Idee verwirklicht, einen historischen, nicht mehr existenten Ort und eine dafür komponierte Musik von JSB virtuell zu rekonstruieren. Wobei diese Formulierung nur ansatzweise das sinnliche Erlebnis wiedergeben kann. TTG-Geschäftsführerin Bärbel Grönegres ist überzeugt, neben dem klassischen auch ein junges Publikum für Bachs Musik erreichen zu können.

Der Architekt und Informatiker Professor Rolf Kruse (FH Erfurt) hat mit seinem Team die Himmelsburg visuell rekonstruiert. Grundlage bildeten die wenigen überlieferten Informationen über dieses ganz besondere Bauwerk mit seinem hochgezogenen Altar und der „unter dem Himmel“ der Schlosskapelle umlaufenden Galerie mit Orgel und den Plätzen für Musiker und Sänger. Der virtuelle Kirchenraum erscheint durch die VR-Brille in seinen architektonischen Proportionen, in der Ausstattung abstrakt und monochrom. Von der oberen Galerie kann der Zuhörer über die Brüstung in den Kirchenraum schauen.

In einem aufwendigen Verfahren, in der Fachsprache Auralisation genannt, haben Professor Stefan Weinzierl (TU Berlin) und sein Team ein 3D-Computermodell entwickelt. Damit ist es möglich, in einem physisch nicht mehr existenten Raum die Schallausbreitung, die sogenannte akustische Signatur, abzubilden. Die Aufnahmen der Kantate, die Bach für die Schlosskapelle geschrieben hatte, durch die Musiker und Sänger von Cantus Thuringia & Capella erfolgte in einem reflexionsarmen Raum der TU Berlin unter Laborbedingungen. Jedes Instrument und jede Stimme wurden einzeln eingespielt.

Der Hörer und Betrachter muss das alles nicht wissen, aber der wissenschaftliche, technische und künstlerische Aufwand für das rund siebenminütige Erlebnis mit VR-Brille und Kopfhörern ist enorm. Die VR-Anwendung wird in einem Container untergebracht, der auch auf Reisen gehen soll. Darin sind drei VR-Plätze eingerichtet. Der Zuhörer wird im Container auf einer harten Kirchenbank sitzen, VR-Brille und Kopfhörer aufsetzen, eine Art Fernbedienung in die Hand bekommen. So kann er sich durch den virtuellen Raum an sechs verschiedene Sitzplätze navigieren und ganz unterschiedliche Höreindrücke mitnehmen. Am Eindrücklichsten, akustisch und visuell, ist das subjektive Erlebnis ganz oben, direkt neben der Orgelbank, auf der einst Johann Sebastian Bach spielte.

Die Thüringer Tourismusgesellschaft wollte das VR-Projekt Weimarer Schlosskapelle „Himmelsburg“ mit Bachs Kantate „Himmelskönig, sei willkommen“ auf der jetzt abgesagten Internationalen Tourismusbörse in Berlin vorstellen. Die Premiere ist zu den Thüringer Bachwochen am 5. April unweit des historischen Aufführungsortes vor dem Weimarer Stadtschloss vorgesehen. Danach geht der Container auf Reisen zu renommierten Musikfestivals in Deutschland und Europa, um einen ganz besonderen Ort Bach´scher Musik lebendig werden zu lassen.

Der Text erschien zuerst in der Tageszeitung Freies Wort (Printausgabe, E-Paper)
und wird hier erstmals online veröffentlicht. Fotos/Screenshot: miplotex

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

8 + 1 =

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.