Die Metallplatte mit den fünf Textzeilen in altdeutscher Schrift ist verwittert und schwer lesbar. Sie hängt hoch über den Köpfen der Wanderer am Goethe-Häuschen auf dem Kickelhahn bei Ilmenau. Das weltbekannte Gedicht schrieb Goethe vor 240 Jahren.
Was für eine Stimmung schwingt in den Versen. Was ist das für eine Atmosphäre auf dem Kickelhahn im Thüringer Wald am Abend des 6. September 1780. Der gerade mal 31 Jahre alt gewordene Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) notiert 24 Worte an die innere Bretterwand der oberen Stube in der Jagdhütte. Erst 1815 werden diese Verse erstmals in Goethes Werkausgabe von Cotta veröffentlicht. „Wandrers Nachtlied“, so der Titel des Gedichtes, wandert um die Welt, wird in über 50 Sprachen übersetzt, immer wieder adaptiert und vertont.
Das 240. Jubiläum des weltbekannten Goethe-Gedichtes stiftet den Anlass für die Sonderausstellung „Poesie am Kickelhahn. Von Wandrers Nachtlied zum Gabelbachlied“ im GoetheStadtMuseum Ilmenau. Die Kuratoren Kathrin Kunze und Rainer Krauß schlagen einen weiten kulturhistorischen Bogen von Goethe zu Gemeinde-Poeten, vom Gedicht zu seiner weltweiten Rezeption bis in die Gegenwart, von gesprochen und gelesenen Versen zu Liedern und Gesängen, zu lokalen Gesangsvereinen und zur Wandervogelbewegung. Das ist ein mutiger Spagat in der Ausstellung zwischen Weltgedicht und Waldpoesie.
Auf dem Hausberg Ilmenaus sollte der Besucher seine Spurensuche starten, sich auf den Teil des Goethe-Wanderweges wagen, der vom Kickelhahn über das Jagdhaus Gabelbach ins GoetheStadtMuseum Am Markt in Ilmenau führt. Oder umgekehrt. Oder gleich die Runde über ca. 12 Kilometer wandern. Das Goethe-Häuschen auf dem Berg ist ein Nachbau, es brannte 1870 ab. Die hoch über den Köpfen angebrachte Metallplatte mit „Wandrers Nachtlied“ fällt den meisten Wanderern auf, die hier vorbeikommen, beobachte ich an einem Freitag Mittag. Die kurzen Erläuterungen dazu im Inneren der Hütte werden schon weniger wahrgenommen. Das mag auch daran liegen, dass sie besser in Szene und ins Licht gesetzt werden könnten, auch von außen.
Das Plateau des Kickelhahns mit dem wunderbaren „Balkon“ und der Panorama-Aussicht über den Thüringer Wald ist eine Baustelle. Der 1855 eröffnete Turm wird saniert. Die Hütte nebenan und ihr Umfeld machen einen wenig einladenden Eindruck. „Poesie am Kickelhahn“ bleibt so eine musealisierte Erinnerung, ein schöner Traum.
Der Weg führt hinab zum Jagdhaus Gabelbach, vielleicht 10 oder 15 Minuten zu Fuß. Das Museum erzählt auf zwei Etagen anschaulich die Geschichten um Goethe und den Wald, die Jagd und sein Naturerleben. Im ersten Obergeschoss des Hauses ist die historische Tür der Jagdhütte ausgestellt, die vor einem Brand wegen einer Reparatur ausgebaut wurde. Auf einer historischen Postkarte mit einem kleinen Porzellanmedaillon sind die Zeilen Goethes dokumentiert, aber nur mit einer Lupe zu lesen.
Goethe beschreibt in einem Brief vom 6. September 1780 an seine Freundin Charlotte von Stein die Stimmung, die ihn zu diesem poetischen Höhenflug inspirierte. Den Brief kann der Besucher in der Ausstellung nachlesen, die Stimmung nachempfinden. An einer Medienstation ist ein Musikvideo abrufbar: die Vertonung von „Wandrers Nachtlied“ von Carl Friedrich Zelter, aufgeführt vom Duo „con emozione“ vor der Kulisse von Kickelhahn und Thüringer Wald.
Unten in der Stadt Am Markt im GoetheStadtMuseum ist die Sonderausstellung das finale Ziel der Wanderung. Wie stellt man ein Goethe-Gedicht aus, das seit 240 Jahren um die Welt geht, immer wieder übersetzt, vertont und adaptiert worden ist? Die Kuratoren haben sich für eine hybride Ausstellung entschieden. Das Gedicht als historische Fotografie der handgeschriebenen Goethe-Zeilen von 1869 ist in einer Vitrine platziert. Oben in der Jagdhütte auf dem Kickelhahn sind die Zeilen aufgezoomt reproduziert. Viel interessanter Lesestoff über den kulturhistorischen Kontext wird angeboten. Unbedingt nach Hause mitnehmenswert ist das ausführliche Faltblatt zur Ausstellung.
Der Schau- und Erlebniswert der Sonderausstellung ist begrenzt. Das kann wohl nicht anders sein. Historische Bücher, Bilder, Drucke, Porzellane etc. vor allem aus dem 19. Jahrhundert mit der schwülstigen Ästhetik bestimmen das Erscheinungsbild. Über zwei Hörstationen, die unter Pandemie-Auflagen (Handschuhe, Abstand des Ohrhörers zum Besucherohr) genutzt werden dürfen, sind Vertonungen von „Wandrers Nachtlied“ und Adaptionen davon sowie Volkslieder von Komponisten des 19./20. Jahrhunderts in zeitgenössischen Interpretationen abrufbar.
Der kulturhistorische Brückenschlag zur lokalen Rezeption des so oft vertonten Goethe-Gedichtes ist gewagt und doch logisch. Also kommen die Sänger- und Gesangsvereine sowie Gemeindepoeten in der Ausstellung zu ihrem Recht, die seit 1832 musikalisch-literarisch die Traditionen pflegen, eigene Beiträge hinzufügen und das kulturelle Leben Ilmenaus gestalten. Victor von Scheffel und das „Gabelbachlied“ sowie Rudolf Baumbach mit dem Kirmeslied „Auf dem Kickelhahn“ gehören zu den bekannten Poeten und Vertonungen dieser Goethe-Verehrung. Sänger- und Weihefeste, demokratische und patriotische Traditionspflege, der Kickelhahn als bevorzugte Bühne von Festen und Feiern werden thematisiert sowie illustriert mit Sängervereinsfahnen und -schleifen, mit Porzellanobjekten und zeitgenössischen Abbildungen.
Die lebenslange Beziehung Goethes zu Ilmenau und der Umgebung umfasst 55 Jahre. Am 27. August 1831 besucht er zum letzten Mal die Jagdhütte und den Kickelhahn, verbringt seinen 82. und letzten Geburtstag zu Lebzeiten in Ilmenau. Die letzten Worte des weltbekannten Gedichtes lesen sich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: „Warte nur, balde | Ruhest du auch.“