Der Hofnarr im Zentrum der Macht

Das ist ein ganz besonderer, ein politischer Ort, der Thüringer Landtag in Erfurt. Gerade sind Künstler zu Gast. Sie feiern mit einer großen Ausstellung den 30. Geburtstag ihres Thüringer Künstlerverbandes.

RESET START. Der Künstlerverband wird 30 Jahre alt und startet neu.

Reicht die Zeit für einen flüchtigen, vielleicht sogar verweilenden Augenblick? Das plastische Objekt von Marianne Conrad eröffnet den Ausstellungsrundgang im Foyer des Thüringer Landtages. Das ist ein Lentikularobjekt aus gefaltetem Plexiglas. Je nach Blickwinkel können die Betrachterin oder der Betrachter die Worte RESET und START lesen, aber beide nicht gleichzeitig. Stillstand und Bewegung, Beharrung und Veränderung, Offline und Online. Noch mehr Gegensatzpaare lassen sich finden, um das Objekt zu beschreiben, darüber fröhlich und nachdenklich zu reflektieren. Das macht den „Wert der Kreativität“ von Kunst, von Künstlerinnen und Künstlern aus.

„Reset. Neustart. 30 Jahre Verband Bildender Künstler Thüringen e.V.“ ist die Ausstellung zum Verbandsjubiläum überschrieben. Sie setzt die seit mehreren Jahren laufende Projektreihe „Wert der Kreativität“ fort, schafft Künstlerinnen und Künstlern immer wieder ein Podium, öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Mehr oder weniger. Im Thüringer Landtag scheint das Interesse an der Kunst und den Künstlern an dem Mittwoch, einem Sitzungstag, mit viel Bewegung im Haus und auf den Gängen, eher gering. Mein flüchtiger Eindruck nach dem zweistündigen Rundgang mit kurzen, zufälligen Gesprächen mag täuschen, vielleicht auch nicht.

Künstlerinnen und Künstler in der Krise
Geplant war eine Überblicksausstellung, um die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen in Thüringen vorzustellen. Geworden ist es eine Ausstellung, die Künstlerinnen und Künstler in der Krise vorstellt, wie sie mit der Corona-Pandemie leben und überleben, darauf reagieren, verzweifeln und aufstehen, weitermachen und neustarten. Die künstlerische Reflexion und Erinnerung an die Jahre 1989/90 blitzt da und dort auf. Provokante und pointierte künstlerische Positionen mit Bezug auf den politisch hoch aufgeladenen Ort und seine Akteure bleiben dagegen die Ausnahme.

Die 56 ausstellenden Künstlerinnen und Künstler aus Thüringen zeigen Arbeiten aus dem jüngsten Krisenmodus heraus, aber auch Kunst, die vor einiger Zeit entstand. Fast alle Ausdrucksformen sind vertreten, vor allem Malerei, Zeichnung und Druckgrafik, wenige plastische Objekte und Installationen, einige künstlerische Fotos und ein bisschen Schmuck. Medienkunst fehlt, vermutlich wegen der äußeren Bedingungen im Landtag, die das nicht zulassen. Jede Künstlerin und jeder Künstler stellt sich und sein ausgestelltes Kunstwerk mit kurzen Worten vor. So informiert und orientiert, kann der Betrachter flüchtig und verweilend durch die Ausstellung flanieren und für sich interpretieren, was Gegenwartskunst in Thüringen antreibt und umtreibt.

Chic bestrickt das Mädchen von Claudia Katrin Ley. Die Uhr darüber steht still.

Nur wenige Eindrücke vom Rundgang vor Ort, der ausdrücklich zu empfehlen ist. Manfred Hausmann aus Meiningen, ein anerkannter Künstler der älteren Generation, sendet und setzt ein Zeichen, einen „Kopf“, eine Zeichnung auf Papier. Der Künstler kreist um den Kopf, abstrakte Formen, unterschiedliche Facetten von Grau. Er scheint einem Geist auf der Spur, den er im Laufe der letzten 30 Jahre immer wieder gestaltet.

Den Stecker in die Steckdose gesteckt
Das „visuelle Bewegungsobjekt“ des Ilmenauer Künstlers Ambech braucht Strom. Also den Stecker in die Dose gesteckt, der permanete Kreislauf von „Halb_Voll“ bewegt sich im Zentrum der Macht. Das rotierende Foto mit dem Wasserglas provoziert viele Interpretationen im Kontext des Ausstellungsortes und der dort arbeitenden Menschen.

Susanne Casper-Zielonka, geboren in Frankfurt/Main, lebt und arbeitet im Rhöndorf Oepfershausen. Die Fotografin experimentiert mit ihrer Kamera und dem Bildträger. Sie reduziert ihre Motive auf das Wesentliche, animiert zum genauen Hinsehen und reflektiertem Nachdenken. Ihre himmelblaue Serie „Brot. Wasser. Fisch“ hinterlässt einen sehr nachhaltigen Eindruck.

Das „Urban Girl III“ von Claudia Katrin Ley scheint nicht von dieser Welt, so einen entrückten Blick schickt sie in den Landtag. Da ist sie dann doch richtig? Die Künstlerin aus der Rhön gestaltet einen Kopf, eine junge Frau, die vielleicht nach einem geplatzten Traum vor einem Neustart steht. Die Uhr an der Wand über der Skulptur ist stehengeblieben. Was soll das nur bedeuten für die Kunst und die Politik?

Der Künstler Rolf Lindner will „manchmal der Hofnarr sein…“

Der Künstler, ein bekanntes, anerkanntes Wesen in unserer Gesellschaft? Rolf Lindner ist ein etablierter Künstler, der den Verband Bildender Künstler Thüringen als Sprecher viele Jahre öffentlich repräsentierte und streitbare Positionen formulierte. Seine Emailarbeit „Künstler“ in der Ausstellung, am aufgeladenen politischen Ort, provoziert visuell und verbal. Sonnenstrahlen, in der Bildmitte eine Faust, die Hammer, Pinsel und Zeichenstift umklammert. Lindners verbale Interpretation ist eine scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen und menschlichem Verhalten. Sein Selbstbild: „Ich werde also weiterhin den ‚Don Quichotte’ machen, manchmal der Hofnarr sein…“

Die Ausstellung im Thüringer Landtag ist wegen Corona nur für Einzelpersonen und nur auf Voranmeldung zu besichtigen (bis 7. September 2020 verlängert). Die kleine Mühe lohnt sich in jedem Fall. Ein virtueller Ausstellungsrundgang im 360-Grad-Format ist über die Website des Thüringer Landtages möglich. Aber der analoge Blick auf die Originale am besonderen Ort bleibt etwas ganz Besonderes.

Die Ausstellung habe ich Anfang Juli 2020 gesehen und danach diesen Text verfasst. Der Beitrag erschien Anfang August in der Tageszeitung Freies Wort (Print, E-Paper) und
wird hier erstmals online frei zugänglich veröffentlicht. Alle Fotos/Screenshot: miplotex

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