14 Tage nix tun. Ein 48-Stunden-Protokoll

18 Minuten. So lange dauert der öffentliche Teil der Sitzung des Werkausschusses Theater am Mittwoch Abend im großen Sitzungssaal des Erfurter Rathauses. Danach muss ich raus, ich bin der einzige Gast. Der nicht öffentliche Teil der Sitzung beginnt. Da geht es heftig zur Sache, höre ich danach.

Zu dem Zeitpunkt, am 17. Januar 2024, liegt der offenbar hoch brisante Bericht einer Berliner Kanzlei dem Oberbürgermeister und Kulturdezernenten seit 14 Tagen vor. Es geht um Vorwürfe sexueller Übergriffe und Machtmissbrauch im Theater Erfurt. Hinzu kommen Vorwürfe einer schlechten Wirtschaftsführung durch die Werkleitung des Theaters, also den Generalintendanten und die Verwaltungsdirektorin. Es geht um ein Defizit von 3 Millionen Euro im Wirtschaftsjahr 2023. Diesen Aspekt lasse ich hier unberücksichtigt. Da schreibe ich eine extra Geschichte.

Hinter verschlossener Tür, in nicht öffentlicher Sitzung, wird im Erfurter Rathaus durch die Spitze der Stadtverwaltung ein Skandal ausgesessen.

Zwei Wochen Zeit für den OB und den Kulturdezernenten, um zu lesen, zu informieren, zu handeln. Nichts passiert bis zum 17. Januar. In der öffentlichen Sitzung des Werkausschusses geht es um den Theaterhaushalt 2024 und 2025, um ca. 50 Millionen Euro. Ausschussmitglieder fragen nach der Dienstwagennutzung von Generalintendant Guy Montavon. Er ist von Erfurt nach Leipzig umgezogen, fährt auf eigene Kosten mit der Bahn, wie er dem Ausschuss erklärt. Die zweite Frage dreht sich um Kosten für die Konsulartätigkeit von Herrn Montavon. Er nutzt als Schweizer Honoralkonsul Ressourcen des Theaters dafür. Viel mehr Fragen zum Theaterhaushalt gibt es nicht.

Der brisante Bericht der Kanzlei zu mutmaßlichen Übergriffen und Machtmissbrauch im Theater ist Thema im nichtöffentlichen Teil des Sitzung des Werkausschusses. Die CDU-Stadtratsfraktion macht öffentlich Druck, andere Stadträte und Fraktionen intern. Der Bericht muss, unter Beachtung schutzbedürftiger Interessen von Betroffenen, veröffentlicht werden, lautet eine Forderung von Stadträten an den in der Sitzung abwesenden Oberbürgermeister Bausewein und den anwesenden Kulturdezernenten Knoblich.

Am 17. Januar um 20:35 Uhr, kurz nach Ende der nicht öffentlichen Sitzung des Werkausschusses Theater, versendet die Erfurter Stadtverwaltung eine Pressemitteilung. Darin steht u. a., dass Stadträte den Untersuchungsbericht der Berliner Kanzlei im Rathaus lesen können. Sie müssen zuvor eine Verschwiegensheitserklärung unterschreiben, müssen über Inhalte des brisanten Berichts öffentlich schweigen. Eine (nicht öffentliche?) Sondersitzung des Werkausschusses Theater mit Anhörung der Autoren des Untersuchungsberichts und dem Personalrat des Theaters wird für den 31. Januar vereinbart.

In der Pressemitteilung gibt Dezernent Knoblich die Richtung vor, wie der Untersuchungsbericht zu bewerten ist. „Was jetzt schon erkennbar ist: Es wurden keine verfolgbaren Straftaten identifiziert, allerdings Rechts- und Regelverstöße, denen mit Maßnahmen zu begegnen ist. Wir sind entschlossen, entsprechende Entscheidungen zu treffen.“

Am 18. Januar gibt Knoblich morgens gegen 7:15 Uhr dem Radiosender MDR Kultur ein Interview. Darin wiederholt er die wesentlichen Aussagen aus der Pressemitteilung des Vorabends. Er wolle nach „den Regeln der Kunst“ handeln und ein „ordentliches Verfahren“ auf die Beine stellen. Am Mittag kommt im selben Sender Steffen Präger zu Wort, Vorsitzender des Werkausschusses Theater. Er will mehr Aufmerksamkeit für die Betroffenen schaffen, kritisiert die „äußerst problematische“ Kommunikation, will möglichen Machtmissbrauch thematisieren.

Zu dem Zeitpunkt, am 18. Januar, lesen die ersten Stadträte den 124 Seiten langen Untersuchungsbericht der Berliner Kanzlei. Sie sind bestürzt, empört, wütend, was sie da lesen. Die Verwaltungsspitze der Stadt kennt das Papier seit 14 Tagen. Sie informiert und handelt nicht. Es reicht einigen Stadträten. Erste Informationen sickern an Medienmenschen durch. Eine Stadträtin lässt sich in der Lokalzeitung öffentlich zitieren, sie fordert Montavons Abgang. Intern machen Stadträte Druck, OB Bausewein und Dezernent Knoblich sollen endlich handeln.

Am 19. Januar morgens kommt kurzfristig eine Runde im Erfurter Rathaus zusammen: OB, Kulturdezernent, Stadträte. An der Sitzung Beteiligte berichten. Der OB will immer noch nicht handeln, die Werkleitung, also Generalintendant und Verwaltungsdirektorin beurlauben, freistellen, entlassen, was auch immer. Schließlich gibt der OB dem Druck nach. Dezernent Knoblich überbringt die Nachricht im Theater Erfurt, die am Nachmittag in einer dürren Pressemitteilung aus dem Rathaus offiziell bestätigt wird.

Generalintendant Montavon und Verwaltungsdirektorin Klepp-Pallas, die Werkleitung des Theaters Erfurt, werden bis zum 7. Februar 2024 freigestellt. Dann tagt der Stadtrat, der Beide abberufen kann. Bis dahin wollen sich OB Bausewein und Dezernent Knoblich mit einer „Beschlussdrucksache positionieren“. Im Klartext: Beide wollen die Richtung vorgeben, wie der gewählte Stadtrat entscheiden soll. Denn der hat das letzte Wort, wenn es um eine mögliche Entlassung von Montavon und Klepp-Pallas geht.

Am 19. Januar um 14:00 Uhr läuft als Spitzenmeldung im Radio bei MDR Thüringen die Nachricht, dass Montavon und Klepp-Pallas freigestellt worden sind. Die Lokalzeitung informiert Minuten später online auf ihrer Internetseite. Regionale und nationale Medien verbreiten die Nachricht im Laufe des Nachmittags. Im Internet kommentieren und polemisieren Theatermenschen und Trolle.

Wie weiter? Im Rathaus und im Theater Erfurt. Fotos: miplotex

Bei mir melden sich Beteiligte und Unbeteiligte der letzten 3 Tage. Sie berichten, fragen und kommentieren, was sie erlebt, gelesen und gehört haben. Ein Stadtrat fragt auf seiner Internetplattform nach mutmaßlichem Machtmissbrauch eines „jemand“ in der Erfurter Stadtverwaltung. Auf meine Frage, „Wer ist jemand?“, antwortet er, „sie wissen schon …“. Ich ahne, wen er meint. Sein Post und unser Wortwechsel sind Stunden später gelöscht, ich habe sie nicht dokumentiert.

Ein Stadtrat chattet mit mir: Montavon „wurde gar nicht offiziell beurlaubt, sondern nur vom Oberbürgermeister gebeten, vorerst nicht ins Theater zu kommen…“

Ich frage zurück: „Wie bitte? Was heißt das denn?“ Antwort: „… um rechtliche Auseinandersetzungen, einstweilige Anordnungen und ähnliches zum jetzigen Zeitpunkt zu vermeiden. Montavon bleibt quasi freiwillig daheim.“ Ich frage zurück: „Was ist das denn für ein Deal?“ Antwort: „Montavon hat mit Anwälten gedroht. Der OB ist erstaunlich inkonsequent.“ Ich frage nicht nach.

Wie weiter?

Vor allem: Wie kommen Betroffene des Skandals angemessen und anonym, wenn sie es wollen, zu Wort? Fakten und Geschichten dieses Skandals müssen öffentlich werden.

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