A. T. Mörstedt in Rudolstadt

Der Hofnarr schaut ins Offene

Alfred Traugott Mörstedt (1925-2005) war ein kantiger, unverwechelbarer Typ. Sein künstlerisches Werk strahlt weit über Thüringen aus. Eine Retrospektive in Rudolstadt setzt Zeichen, wie ein Museum mit einem Künstlernachlass umgeht.

ATM, wie er genannt wurde, gestaltete auch Postkarten, künstlerische Unikate mit ganz eigenen Botschaften. „Das Fräulein am Rennsteig rastend“ oder „Das doppelte Schaukelpferd“ bringen Unordnung in die scheinbare Ordnung, verschieben Perspektiven in scheinbar festgefügten Welt-Bildern. Die kleinen Formate aus den 1980er-Jahren erzählen von Idylle und Katastrophen: subtil provozierend, ironisch und politisch.

Die Retrospektive im Thüringer Landesmuseum Rudolstadt veranschaulicht die formale, stilistische, künstlerische Vielfalt, Qualität und Unverwechselbarkeit von Mörstedts Werk. Es strahlt weit über Thüringen hinaus, wird geschätzt, gesammelt und ausgestellt. Für die Schau wurden etwa 70 Arbeiten aus etwa 2.000 künstlerischen Objekten aus dem Nachlass der Alfred-Traugott-Mörstedt-Stiftung ausgewählt, der seit 2013 in Rudolstadt verwahrt und aufgearbeitet wird. Dazu gehören Zeichnungen und Collagen, Druckgrafiken und druckgrafische Künstlerbücher, Materialmontagen und textile Arbeiten. Die poetischen Titel der Kunstwerke, die ATM formulierte, stiften Gedanken und Assoziationen, Sinn und Unsinn, verführen und verwirren den Betrachter und Leser.

So viel Unruhe um einen Künstler, der in Erfurt lebte und arbeitete, in der DDR-Zeit ein beachteter und beobachteter Außenseiter war, der in der Tradition der Moderne des 20. Jahrhunderts Vorbilder fand und seinen eigenen künstlerischen Weg ging. Erste künstlerische Studien 1947 in Erfurt bei Otto Knöpfer, danach an den Kunsthochschulen in Weimar, Dresden und Berlin-Weißensee. Erste Tätigkeit als Gebrauchswerber und Entwerfer in der vogtländischen Textilindustrie, seit 1960 freischaffender Künstler in Erfurt. Er ist Mitbegünder der „Erfurter Ateliergemeinschaft“, die außerhalb staatlicher Ideologien und Strukturen Künstler zusammenführt und Kunstausstellungen organisert.

Seit 1957 stellt Mörstedt aus, in der DDR-Zeit vor allem in Kulturbund- und Kleinen Galerien jenseits des etablierten staatlichen Kunstbetriebs.  1980/81/82 ist er erstmals in Meiningen, Suhl und Sonneberg mit seinem Werk präsent, aber auch in der alten Bundesrepublik und im Ausland. Die aktuelle Personalschau im spätgotischen Gewölbekeller im Thüringer Landesmuseum auf Schloss Heidecksburg stellt ein erstes Arbeitsergebnis der ATM-Stiftung vor. Sie wurde 2013 gegründet und geht auf eine langjährige Partnerschaft und gewachsene Freundschaft zwischen dem Künstler und dem Kurator, Herausgeber und Förderer Jens Henkel aus Rudolstadt zurück.

Kunstwissenschaftlerin Sabrina Lüderitz bearbeitet den Nachlass von ATM.
Kunstwissenschaftlerin Sabrina Lüderitz bearbeitet den Künstlernachlass von ATM.

Das Museum stellte zwei Räume für den gesamten Nachlass zur Verfügung. Die junge Kunstwissenschaftlerin Sabrina Lüderitz arbeitet seit 2013 das Konvolut konservatorisch und wissenschaftlich auf. Leider läuft jetzt ihre Stelle aus, obwohl es noch so viel zu tun gibt. Sie bereitete gemeinsam mit Stiftungsvorstand Karl-Heinz Hänel, mit Jens Henkel und Museumsdirektor Lutz Unbehaun die Ausstellung vor, zu der auch ein informativer und gestalterisch ausgezeichneter Katalog gehören.

Stftungsvorstand Karl-Heinz Hänel (links) und Museumsdirektor Lutz Unbehaun in der Ausstellung. Fotos: mip
Stftungsvorstand Karl-Heinz Hänel (links) und Museumsdirektor Lutz Unbehaun in der Ausstellung. Fotos: mip

In der Ausstellung „Die Stunde der blauen Schmetterlinge“ können die Sinne und Assoziationen spazieren gehen, die Gedanken fliegen. Der Betrachter kann in Formen, Farben und Strukturen eintauchen. Figuratives, Assoziatives und Landschaftliches ordnen die Schau. Der prägnante metaphorische Charakter der Kunstwerke und die von ATM absichtsvoll formulierten Werktitel schaffen einen zusätzlichen Erlebnisraum.

1977 entsteht die kolorierte Lithografie „Der Hofnarr auf der Mauer“, Selbstbild eines Künstler über unmögliche Zustände in früheren und damaligen Zeiten. Der Narr als „Zeitgeist“ schaut über die Mauer ins Offene und ist doch eingesperrt. 2001 gestaltet ATM einen „Epitaph für einen Hofnarren“. Da fliegen Fische, wirbeln Farben, flattern Fähnchen im Wind, formen sich Fragmente zu einem Ganzen. Ein selbstironischer Gruß und Vermächtnis eines kantigen Künstlers, bei dem noch viel zu entdecken ist.

Ausstellung „Die Stunde der blauen Schmetterlinge“
im Gewölbesaal des Nordflügels
im Thüringer Landesmuseum Heidecksburg in Rudolstadt

bis 28.02.2016
geöffnet Di-So 10-17 Uhr | bis 31.10. bis 18 Uhr

Begleitbuch zur Ausstellung 120 Seiten; zahlreiche Abbildungen, vier Essays; 24,50 Euro

Der Text erschien im Feuilleton der Tageszeitung Freies Wort.

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