Werner Tübke hat über 50 Jahre lang Tagebuch geführt, Skizzen und Notizen verfasst. Erstmals erscheint eine repräsentative Auswahl in Buchform. Seine Selbstgespräche führen ihn immer wieder nach Thüringen.
Das Opus magnum, ein Jahrhundertwerk, hängt auf dem Schlachtberg am Rande von Bad Frankenhausen in Thüringen. Das Panoramagemälde „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ von Werner Tübke ist ein Meisterwerk. Es berührt, monumental und parabelhaft, Grundfragen menschlicher Existenz, verbindet Geschichte und Gegenwart, Raum und Zeit. Der Künstler ignoriert den propagandistischen Auftrag des DDR-Staates.
Im Rückblick auf „11 Jahre im grünen Thüringen“ erinnert sich der Maler an BF. (Bad Frankenhausen). „Das war ich nicht! Das Bild habe ich nicht gemalt. Es kam über mich und lief, und lief …“ notiert er am 26.12.88. Werner Tübkes „Erinnerungen an Bad Frankenhausen 1988/89“ geben einen tiefen, intimen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt, in Arbeitsweise und Alltag, in die Zeit des politischen Umbruchs in der DDR. Das Monumentalgemälde signiert Tübke mit großem Gestus am 16. Oktober 1987. Das Panorama Museum Bad Frankenhausen wird am 14. September 1989 eröffnet, der letzte Museumsneubau der DDR und mit „nur“ einem einzigen Bild.
Das Buch „Werner Tübke. Mein Herz empfindet optisch“ vereint „zum ersten Mal in repräsentativer Breite“ die im Nachlass von Werner Tübke (1929-2004) im Jahr 2007 aufgefundenen Tagebücher, Skizzen und Notizen. Das schreiben die Herausgeber, die Leipziger Kunstwissenschaftlerin Annika Michalski und Eduard Beaucamp, renommierter Kunstkritiker (im Ruhestand) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Freund Tübkes. Der Fund umfasst insgesamt 26 Bücher von 1950 bis 2001 mit mehr als 3500 eng beschriebenen Seiten. Die Witwe Brigitte Tübke-Schellenberger schenkte das Konvolut der Universitätsbibliothek Leipzig, die das Material archivarisch erfasste und digitalisierte. Da zahlreiche familiäre und personenbezogene Schilderungen enthalten sind, ist der Nachlass bis 2024 gesperrt. Die erstmalige Publikation von Auszügen ist der Witwe zu verdanken.
„Thematisch Belangvolles“ von Tübke versprechen die Herausgeber und steuern selbst fünf erklärende und kommentierende Texte bei. Der mit Leben und Werk des Künstlers vertraute Leser wird dennoch nicht immer den Kontext der oft stichwortartigen Notizen erschließen können. Die längeren Briefe, Reden und Reflexionen Tübkes zeichnen das Bild eines widersprüchlichen Menschen mit starkem Charakter, voller Selbstzweifel, einsam, oft krank, diszipliniert und wie im Rausch arbeitend, in prekärer wirtschaftlicher Lage und seit den 1970er-Jahren ein international etablierter Künstler, der seinen Marktwert kennt und selbstbewusst einfordert.
Sein Ausstellungsdebüt mit eigenen Arbeiten gibt der junge Tübke am 23. Mai 1954 im Lindenau-Museum Altenburg. Er notiert im Tagebuch: „So, nun hab´ ich das erste Mal Arbeiten von mir in einer Ausstellung gesehen. Ich traute mich gar nicht rein.“ Das Debüt ist trotzdem „beglückend und befriedigend und anspornend.“ Im Dezember 1956 verbringt der Maler einen kurzen Arbeitsurlaub im „vornehmen Thälmann-Hotel“ in Oberhof. Er reflektiert ausführlich über Wanderungen und Naturerlebnisse, über sein Kunst- und Wissenschaftsverständnis, über seine künstlerische Produktion. „Werde wohl so mit 5 Landschaften und 5 Bildnissen heimkehren“, notiert er am 18. Dezember 1956.
Der Großauftrag für das Panoramabild in Bad Frankenhausen spiegelt sich kaum während der Arbeit von 1976 bis 1987 in den Tagebüchern Tübkes wider, dafür in amtlichen Korrespondenzen und Akten. In einer im Herbst 2017 im Panorama Museum eröffneten Dauerausstellung zur Geschichte des Bildes ist der Vertrag von 1976 mit dem DDR-Kulturministerium reproduziert. Tübke lässt sich garantieren, dass „mir freie Hand gelassen wird, es redet niemand rein.“ Daran erinnert Herausgeber Eduard Beaucamp in seinem Essay zum Panoramabild. Er begegnet Tübke erstmals 1968 in Leipzig. Als Kunstkritiker der FAZ macht er ihn im Westen bekannt.
Aus seinem Privatarchiv publiziert Beaucamp zwei Briefe im Buch, wie Werner Tübke den politischen Umbruch in der DDR 1990/91 reflektiert. „Die Lage im Land spitzt sich zu. Ich fürchte ein Machtvakuum hier. Dann geht es hier drunter und drüber. Wir haben Angst.“ Im zweiten Brief schreibt er: „Aus meiner Arbeitssituation heraus wäre mir das, was im Herbst 1989 geschah, nicht im Traum eingefallen.“
Die intimen Selbstgespräche von Werner Tübke lassen den Leser und Kunstfreund tief in die Gedanken- und Gefühlswelt des großen Künstlers eindringen, wie das bisher nicht möglich war. Bei allem Schutz persönlicher Daten, im Buch tauchen so viele Namen auf, dass ein Personenregister schmerzlich vermisst wird. Wenn Tübkes Tagebücher und Skizzenbücher ab 2024 frei zugänglich sind, sollte eine kommentierte kritische Ausgabe publiziert werden.
Der Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung Freies Wort und auf der Internetseite insuedthueringen.de