Die internationale Großausstellung „Skulptur Projekte Münster“ öffnet neue Horizonte. Moderne Kunst ist demokratisch, darf Spaß machen, lädt zum Diskurs ein. Sie steht für analoge und digitale Veränderungen, für Geschichtsbewusstsein und eine Zukunft, die uns weiter überraschen wird.
Über diese unsichtbare Brücke sollen die Besucher gehen und sich nasse Füße holen. Die Pontons schwimmen knapp unter der Wasseroberfläche, überbrücken beide Seiten des Stadthafens im Süden von Münster. Die Bürokratie hat das Projekt abgesegnet, das war ein Kraftakt an sich. Über´s Wasser gehen? Eine Geschichte aus der Bibel, Matthäus-Evangelium, Jesus geht über das Wasser, redet von Gott-Vertrauen. Die türkische Künstlerin Ayşe Erkmen öffnet einen Weg, der sonst eine natürliche Grenze markiert. Moderne Kunst greift in den öffentlichen Raum ein, macht ihn zugänglich.
Die Skulptur Projekte Münster finden seit 1977 alle zehn Jahren statt. Erst ein Experiment, hat sich die Großausstellung international längst etabliert. In der jungen, wachsenden, wohlhabenden, katholisch geprägten Universitäts- und Kulturstadt in Westfalen reden sie mittlerweile von der Skulptur Münster. In diesem Jahr sind 41 eingeladene Künstler aus 19 Ländern mit 35 Kunstobjekten und Projekten vertreten.
Aber was und wer und wie ist das gemeint? Skulptur? Projekte? Münster? Allein in den letzten zehn Jahren haben sich die Welt und das Leben der Menschen dramatisch verändert. Digitalisierung, Kommunikation, Mobilität, die vermeintliche Verfügbarkeit von Allen und von Allem lässt die Zeit rasen. Nicht in Münster. Zehn Jahre Zeit braucht´s schon für eine neue Großausstellung, Zeit für Reflexion und neue Fragen, die neue Antworten bringen sollen. Zum fünften Mal ist der 73-jährige Kasper König als Kurator bzw. künstlerischer Leiter der Inspirator, Vordenker und ein Lernender. Er hat gemeinsam mit den Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner in kluger Selbstbeschränkung ein Projekt entwickelt, das Besucher zum Schauen, Staunen, Fragen, Diskutieren und Reflektieren animiert.
Der Begriff der Skulptur erweitert und verändert sich: öffentlicher und privater Raum, Klang und Geräusch, unterschiedliche Materialien, Audios und Videos, der eigene und fremde menschliche Körper, das Analoge, Digitale, Experimentelle, Unvorhersehbare der Kunst, die Wahrnehmung durch das Publikum. Kunst und Künstler setzen sich in Beziehung dazu, greifen ein und an, beziehen Besucher ein. Münster hat sich seit 1977 durch die Skulptur Projekte erst empört, dann verändert, ruht jetzt in sich, behaupten Kritiker. Münster verändert sich permanent durch die Präsenz moderner Kunst.
Vom Hafen quer durch die Stadt führt der Weg in die ehemalige Eissporthalle. Der französische Künstler Pierre Huyghe erweitert mit seinem Projekt „After ALife Ahead“ (Nach einem K-Leben vor dem, was kommt) den Skulpturbegriff auf Krebszellen und Smartphones, bietet eine eigene App an, um die „Grubenlandschaft“ und was da passiert zu decodieren. Da grübelt der Betrachter, vielleicht, über vernetzte, digitale Welten, wird sein klassisches Verständnis von Kunst hinweggefegt.
Der schattige, viereinhalb Kilometer lange Promenadenweg durch Münster führt zum „Momentary Monument – The Stone“ der Turiner Künstlerin Lara Favaretto. Ein massiver Monolith aus Granit mit Schlitz – eine Spendenbox. Das Geld soll an eine Stiftung gehen, die Geflüchtete betreut. Weiter geht´s zu „Nietzsche´s Rock“ von Justin Matherly. Der New Yorker Künstler greift die Idee des Philosophen von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ auf, angeregt von einem Felsen im Oberengadin. Was ist da nur vom Himmel auf die grüne Wiese in Münster gefallen? Der aus gegossenen Betonteilen zusammengesetzte Felsen ruht auf vierbeinigen, sichtbaren Gehhilfen. Schlitze im Material geben Einblick in die Innenwelt der Skulptur, die nicht wie andere betreten, berührt oder bestiegen werden kann. Dafür sorgen Aufsichtskräfte, oft sind das Kunststudenten, die vor allem Fragen zu Kunstwerk und Künstler beantworten. Weiter auf dem Promenadenweg zu Nicole Eisenman aus New York und ihrem witzig, pfiffigen „Sketch for a Fountain“. Die tatsächlich und metaphorisch schrägen Figuren spielen mit Wasser, ihrer Haltung, ihrer selbstbewussten Nacktheit und natürlichen Offenheit. Daran haben Kinder und Erwachsene ihren Spaß.
Um den Domplatz herum in Münster gibt es jede Menge zu entdecken, ja zum Lachen, Fürchten, Grübeln. Was soll die Wasserwaage von John Knight (Los Angeles) an der Nordspitze des Museumsneubaus? Alles im Lot zwischen Innen und Außen, Altbau und Neubau, Kritikern und Befürwortern des Museumsneubaus? Über einen Seiteneingang des Museums führt der Weg in eine fast leere Wohnung von Gregor Schneider aus Mönchengladbach. Eine Licht-Schatten-Innen-Außen-Welt: klaustrophobisch, voller Düfte, minimalistischer Geräusche, Überwachungskameras, Spiegel. Hier muss ich raus, das ist nicht zum Aushalten.
Das sind nur ganz wenige Eindrücke einer berührenden Ausstellung. Sie ist für alle Besucher kostenfrei zugänglich. Der Katalog zum kleinen Preis ist empfehlenswert für jene, die mehr erfahren wollen. Eine großes Faltblatt mit Stadtplan mit allen Standorten und knappen Informationen reicht aber auch aus. Die App für Smartphones führt digital durch Münster zur Kunst. Die Skulptur Projekte Münster lohnen die Anreise aus Thüringen. Unbedingt sehenswert!
Der Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung Freies Wort und auf der Internetseite insuedthueringen.de (Bezahlschranke).