Goethe wird vermessen. Wie ist er zu packen? Was und wie ist vorzeigbar im 21. Jahrhundert? Die Klassik Stiftung Weimar und drei Partner schenken der Bundeskunsthalle in Bonn eine bemerkenswerte Ausstellung.
Fünf klassische Goethe-Porträts an der ersten Wand müssen sein. Der Ausstellungsrundgang lenkt den zweiten Blick in die folgende Rotunde auf „Die Reisekutsche von Goethe“. Das Original steht in Weimar. In Bonn liegt ein Kutschen-Fragment, die vier Räder nach oben und halbiert. Die zeitgenössische Installation von Asta Grötting von 2011/2012 ist ein Sinnbild. Starten wir die Reise in die Ausstellung „Goethe. Verwandlung der Welt“, nach 25 Jahren erstmals wieder eine umfassende Annäherung an den Dichter, Welterklärer und Inspirator.
Kurator Thorsten Valk und seine Mitarbeiterinnen Sophie Borges und Jana Piper von der Klassik Stiftung Weimar sowie Mitkuratorin Johanna Adam von der Bundeskunsthalle nähern sich Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) multiperspektivisch an. Sie rekonstruieren kulturhistorische, gesellschaftspolitische und sozialgeschichtliche „Verwandlungen“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Sie reflektieren „Verwandlungen“ über mehr als 200 Jahre Goethe-Rezeption. Sie setzen sich ästhetisch-hermeneutisch mit Goethes Werken vor den „Verwandlungen“ heutiger Lebensrealitäten auseinander. „Sie werden vieles finden und manches vermissen“, prophezeit der Kurator, als er in Bonn in die Ausstellung einführt.
Sie umfasst neun biografische und thematische Kapitel, markiert durch jeweils eine eigene Farbe, die emotional einstimmen soll. Die Frankfurter Kindheit in giftgrün schlägt den Bogen von der alten Welt bis in die beginnenden 1950er-Jahre, als das zerbombte Geburtshaus Goethes rekonstruiert und als Memorialstätte wiedereröffnet wird. Die Replik einer Kaiserkrone, Bücher und Gemälde aus dieser Zeit sind Zeichen umfassender Bildung, die der Junge erhält. Ausschnitte aus Wochenschauen von 1947 bis 1951 berichten über den Wiederaufbau des Frankfurter Goethehauses. Das ist ein Vermittlungsprinzip der Ausstellung, Werke Goethes und aus seiner Zeit mit ihrer Rezeption und Wirkung bis in die Gegenwart in einem Kontext zu präsentieren.
Dann toben die Hormone, ein Kabinett ganz in rot. 1774 erscheint der Bestseller „Die Leiden des jungen Werthers“. Der junge Goethe rebelliert gegen die alte Welt und Wertvorstellungen. Ein Buchexemplar aus der Entstehungszeit und die historische Pistole von Kestner, einer verbürgten Nebenfigur im Roman, messen das ästhetische und emotionale Spannungsfeld von lodernden Gefühlen, enttäuschter Liebe und dem Selbstmord des Helden aus. Dazwischen edles Meißner Porzellan, Gemälde und Zeichnungen sowie Filmausschnitte mit Motiven und Bildern aus 250 Jahren.
Das Land, „wo die Zitronen blühen“, bietet Stoff genug für eigene, große Ausstellungen. Goethes Italienreise 1786/1788, das Erlebnis antiker Kultur und Kunst der Renaissance, prägt ihn bis an sein Lebensende. Die Klassik Stiftung überrascht in der Ausstellung mit einem Neuguss des Apoll vom Belvedere, der in den Mittelpunkt dieses Ausstellungsteils gerückt wird. Daneben Goethe-Zeichnungen und von Zeitgenossen wie Tischbein und Bury, Gemälde von Hackert, zeitgnössische Bilder und Fotografien von Cy Tombly und Barbara Klemm. Andy Warhols bekannte Pop-Art-Porträts hängen in einem Kontext mit einem recht mißlungenen zeitgenössischen Gemälde nach Tischbeins berühmten Bild „Goethe in der römischen Campagna“. Das Original aus dem Frankfurter Städel-Museum ist offenbar nicht ausleihbar.
Die Reflektion auf Goethes Farbenlehre setzt einen wunderbaren Akzent auf die klassische Moderne und das Bauhaus mit Werken u. a. von Piet Mondrian, Adolf Hölzel, Paul Klee und Josef Albers. Von Bauhaus-Meister Johannes Itten ist sein „Tagebuch“ von 1930 zu sehen mit der aufgeschlagenen Seite „Einiges zur Farbenlehre“.
Über Goethes „Faust“ ist im letzten Jahr in München fast alles gesagt und gezeigt worden, diese Zeitung berichtete. Das ist so kurz danach nicht zu toppen. Manches wiederholt sich in der Bonner Bundeskunsthalle.
Die Kapitel „Revolution und Klassik“, „Die Kunst der Romantik“ und „Dialoge mit dem Orient“ können nur erwähnt werden. Goethe bewundert Napoleon und lehnt die Französische Revolution ab. Er fördert einen Künstler wie C. D. Friedrich und begegnet den Romantikern skeptisch. Als junger Autor liest Goethe den Koran, plant ein Drama über Mohammed. Zu den ungezählten Goethe-Werken aus den Beständen der Klassik Stiftung Weimar, die in der Ausstellung zu sehen sind, kommen einzelne Leihgaben aus Thüringer Museen. Herausragend darunter das Gemälde von C. D. Friedrich „Morgennebel im Gebirge“ aus dem Thüringer Landesmuseum Heidecksburg in Rudolstadt. Es war auch vor 25 Jahren in der erwähnten letzten großen Goethe-Ausstellung in Frankfurt/Main und in Weimar zu sehen. Der Weimarer Ausstellungsort 1994 wird von den Kuratoren und Veranstaltern glatt unterschlagen.
Weimar gehört das letzte Ausstellungskapitel. In Thüringen sind die Wege kurz bis in die Goethe-Stadt und die Memorialstätten, um sich ein eigenes Bild zu machen. In Bonn verfremdet die Künstlerin Sabine Schirdewahn „Goethes Arbeitszimmer“, taucht es in milchiges Licht und Nebel, ein Guckkasten ohne Goethe. Geschafft die große Runde durch Goethes Werk, seine Welt und die Zeit der Verwandlungen bis in die Gegenwart.
Halt. Da stehen noch zwei Dachlatten an der weißen Wand, ein Kunstwerk von 1982 von Georg Herold. Auf der langen Latte steht „Goethe“, auf der kurzen „Im Vergleich dazu irgendein Scheißer“.
Hahaha! Das ist vermessen. Goethe wird vermessen.