Erforschung der Welt modern inszeniert

Goethe interessierte sich lebenslang für Naturwissenschaften. Er sammelte, forschte, korrespondierte und publizierte. Eine klassische, innovative und interaktive Ausstellung in Weimar präsentiert erstmals im Überblick Goethe und die Naturwissenschaften um 1800.

Ulrike Lorenz (links), Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar, und Kuratorin Kristin Knebel stellen der Presse die Ausstellung vor.

Über das hoch attraktive Geschenk zu seinem heutigen 270. Geburtstag würde sich Goethe bestimmt freuen. Das „Abenteuer der Vernunft“, so der Ausstellungstitel nach Immanuel Kant, ist ein sinnliches wie intellektuelles Ereignis. Der Besucher kann schauen und staunen, experimentieren und interagieren, entdecken und spielen. Die klassische Präsention von Originalen in Vitrinen und an Wänden wird intelligent und überzeugend erweitert durch virtuelle Anwendungen und Sinnesboxen. Die Gestaltung und Besucherführung durch die Ausstellung im Schiller-Museum überzeugt. Dabei wird zum wiederholten Mal deutlich, in Weimar fehlt eine großzügige Möglichkeit für solche Sonderausstellungen. Diese hochkarätigen Weimarer Präsentationen finden leider nur in München oder gerade in Paris und Bonn statt.

Den Kuratoren Kristin Knebel, Gisela Maul und Thomas Schmuck ist in Kooperation mit den Gestaltern von Whitebox Dresden und den „Virtuellen Zauberern“ von Space Interactive Krefeld im kleinen Schiller-Museum ein großer Wurf gelungen. In drei Kapiteln erzählen sie von der explosionsartigen Entwicklung der Naturwissenschaften um 1800. Goethe steht da mittendrin: als interessierter Beobachter, Sammler, Forscher, Netzwerker, der darüber schreibt, mit anderen diskutiert, selbst experimentiert, sich ein Leben lang interessiert.

Zuerst geht’s in der Ausstellung in einen inszenierten Bergwerksstollen. Er könnte im Ilmenauer Revier liegen, für das Goethe ab 1776  verantwortlich ist. Er sammelt Steine aller Art aus aller Welt, vor allem aus Europa, auch Geschenke von Wissenschaftlern und anderen Sammlern sind darunter. Die steinerne Kollektion von Goethe umfasst ca. 18.000 Exemplare, die naturwissenschaftliche Sammlung insgesamt 23.000 Objekte inklusive Schriften, Bilder und Grafiken, Geräten und experimentellen Vorrichtungen. Sie ist in Weimar fast komplett erhalten. Rund 400 Objekte geben einen Überblick in der Ausstellung.

Der Amethystdruse im Porphyr ist ein so unscheinbarer Stein aus dem Thüringer Wald, der exemplarisch am Beginn des Rundganges zu sehen ist. Das erste Kapitel „Zeit und Erde“ fragt etwa danach, wie die Erde und ihre Gesteinsschichten entstanden sind. Neptunisten und Vulkanisten formulieren im Widerstreit ihre Theorien. Verantwortlich sind Wasser oder Vulkane. „Der Berg brennt!“ Da liegt ein papiernes Buch auf einem Tisch. Wer in dem Spacebook blättert erlebt ein virtuelles Wunderwerk. Da lodern die Flammen, gedruckte und virtuelle Inhalte „verschmelzen“, erweitern sinnlich und intellektuell Goethes wissenschaftliche Biografie. 1787 besteigt er während seiner „Italienischen Reise“ den Vesuv und beobachtet den aktiven Vulkan. Die multimediale Versuchsanordnung in der Ausstellung ist eine überzeugende Innovation.

Virtuelles Riesenfaultier durchs Schlüsselloch beobachtet.

Goethe beobachtet in den Schweizer Alpen, wie Gletscher Material transportieren ,wie Eisschollen abschmelzen, ein Phänomen, das heute stark verbreitet ist. Er wird zum Vater der Eiszeitidee. In einer Sinnesbox wird ein ausgestorbenes Riesenfaultier virtuell zum Leben erweckt. Diese Boxen animieren große und kleine Besucher, wie durch „Schlüssellöcher“ in vergangene Welten einzutauchen, sich überraschen zu lassen, zu lachen und zu staunen.

Das zweite Ausstellungskapitel präsentiert „Ordnung und Entwicklung“, diskutiert Fragen nach Konstanz und Wandel in der Natur, thematisiert die Anfänge der modernen Biowissenschaften. Hier kommt Carl von Linné und seine auf „Sexualorganen“ aufgebaute Pflanzensystematik ins Spiel, sehr pikant und die Phantasie beflügelnd. Goethes Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens wird in einem zweiten Spacebook erzählt. Was ist Leben? Wie entsteht es? Diese und weitere Fragen beschäftigen Goethe und andere Naturwissenschaftler. Immer wieder wechseln Sachinformationen, Objekte in Vitrinen und Bilder an Wänden mit Sinnesboxen und interaktiven Elementen in der Ausstellung.

Das letzte Ausstellungskapitel „Licht und Substanz“ thematisiert Goethes umstrittene „Farbenlehre“, sein umfangreichstes Einzelwerk. Der Astrophysiker und ZDF-Wissenschaftsjournalist Harald Lesch erklärt per Video Naturentdeckungen, die heute noch hoch aktuell sind, darunter aus Goethes Sammlung ein Sonnenspektrum von Joseph von Fraunhofer. Das ist gut nachvollziehbar auch für Laien, kommt locker und witzig herüber. In einer nachgebauten Netzwerk-Bibliothek kann der Besucher biografische Blätter von 37 Wissenschaftlern um 1800 aus dem Regal herausnehmen, ihre kurze Vita lesen. Oder er legt das Blatt gleich auf einen gläsernen Tisch. So entsteht aus virtuell erzeugten Bildern, Animationen und zusätzlichen Informationen ein ausführlicher „Steckbrief“ des jeweiligen Wissenschaftlers.

Noch so eines Sinnesbox in der sinnlichen Ausstellung. Fotos / Screenshot: miplotex

Die Ausstellung ist ein Fest für die Sinne und ein intellektuelles Vergnügen. Sie weckt Neugierde auf Naturentdeckungen in einer bewegten Zeit um 1800 und auf Objekte aus Goethes überbordender Sammlerleidenschaft.  Sie setzt Maßstäbe in der modernen musealen Vermittlung komplexer Inhalte. Sie ist im besten Sinne sehens- und erlebenswert.

Der Text ist zuerst am 28. August 2019, dem 270. Geburtstag Goethes, in der Tageszeitung Freies Wort veröffentlicht worden.

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