Er ist im Schloss Elisabethenburg in Meiningen angekommen. Er bringt viele Bilder, wenige Skulpturen, einige Bücher und Manuskriptseiten mit. „Grass in Meiningen“ ist eine bemerkenswerte flüchtige Begegnung mit dem weltberühmten Schriftsteller und bildenden Künstler.
Wann kommt schon mal ein Literaturnobelpreisträger nach Meiningen? „Günter Grass war zu seinen Lebzeiten nie in Meiningen“, erzählt Andreas Seifert, Leiter des Baumbachhauses, das zu den Meininger Museen gehört. Er hat die Sonderausstellung in der oberen Galerie des Schlosses mit organisiert und eingerichtet. Sie ist extra für die Meininger Museen aus den reichen Beständen der Günter und Ute Grass Stiftung und dem Grass-Haus in Lübeck zusammengestellt und von Tatjana Dübbel aus Hamburg kuratiert worden.
Den Besucher erwarten in fünf Räumen mehr als 130 Objekte aus dem überbordenden Lebenswerk von Günter Grass (1927-2015). Das sind persönliche Alltagsgegenstände wie seine immerwährend qualmende Pfeife und seine Brille, eine alte Staffelei, Mal-, Grafik- und Schreibwerkzeuge. Vor allem der Grafiker, Maler und Bildhauer Grass dominiert mit grafischen Blättern, Aquarellen und Kleinplastiken die Ausstellung. Zwei Medienstationen vermitteln Einblicke in das Leben des „politischen Bürgers“ Grass, die Beziehung zum Regisseur Volker Schlöndorff sowie Lesungen aus seinem Roman „Die Rättin“.
Den Auftakt im Vorraum bildet ein Trio kleinformatiger Skulpturen. „Die Lächelnde“ von 1950, ein junges, schmales, zartes, verletzlich erscheinendes Mädchen, macht Mut in den Nachkriegsjahren. „Henne“ und „Butt im Griff“, später entstanden, nehmen Bezug auf Märchen und Metaphern im literarischen Werk von Grass. Der gelernte Steinmetz studierte ab 1947 an der Kunstakademie Düsseldorf und der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Die doppelte künstlerische Begabung und Produktion, Bild und Wort, sollte sein überragendes Lebenswerk prägen.
Einen Akzent in der Meininger Ausstellung setzt der Bild-Text-Band von Grass von 1999 „Mein Jahrhundert“. Ein kurzer Text und ein aquarelliertes Blatt beschreiben episodenhaft ein Jahrhundert deutscher und Weltgeschichte. Politische Positionen von Grass werden deutlich und ganz zugespitzt direkt dargestellt, wenn abgetrennte Köpfe deutsche Kolonialpolitik geißeln. Oder wenn ein Rosenmontagszug 1950 von zwei Masken dominiert wird, von Ulbricht und Adenauer, die sich „sogar geküsst haben“, wie Grass schreibt.
Der Besucher sollte sich ein bisschen in deutscher und internationaler Zeitgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts auskennen, von Grass schon mal etwas gelesen haben, sein Leben und Werk in groben Zügen kennen. Biografische Notizen finden sich da und dort auf Texttafeln, oft etwas versteckt neben und hinter Saaltüren. Ein kompakter Überblick als Auftakt in den Ausstellungsrundgang wäre wohl vorteilhafter gewesen.
Der autobiografische Roman „Die Blechtrommel“ von 1959 sollte allerdings zum allgemeinen Bildungsgut jedes Besuchers gehören. Er machte Grass weltberühmt und brachte ihm letztlich den Literaturnobelpreis 1999 ein. Neun Exemplare in neun Sprachen stehen in einer Vitrine und in einer Blickachse auf ein Aquarell aus „Mein Jahrhundert“ mit dem Blechtrommler Oskar Matzerath, dem kleinen Jungen aus Danzig, dem Geburtsort von Grass. Der gleichnamige Film von Volker Schlöndorff, 1980 ausgezeichnet mit dem Oscar, mit David Bennent, Katharina Thalbach, Angela Winkler, Mario Adorf und weiteren bekannten Schauspielern, ist auf diversen Plattformen im Internet immer noch zu sehen.
Der bildende Künstler und weltberühmte Schriftsteller war zeitlebens ein politischer Mensch, Wahlkämpfer für Willy Brandt und die SPD, streitbarer und umstrittener Zeitgenosse. Einige historische Fotos und eine Medienstation geben Einblicke. Den Kniefall von Warschau 1970 von Brandt hat Grass in einem Aquarell festgehalten. Der Roman „Ein weites Feld“ von 1995 und dazugehörige Zeichnungen zeugen von der künstlerischen Auseinandersetzung von Grass mit menschlichen und wirtschaftlichen Konflikten im wieder vereinten Deutschland.
Der letzte Ausstellungsraum ist dem „Märchenmaler“ Grass gewidmet, vor allem im Kontext seiner Romane „Der Butt“ von 1977, „Die Rättin“ von 1986 und dem dänischen Erzähler Hans Christian Andersen, dem er 2005 eine ganze Serie widmete. Spätestens hier stellt sich dem Besucher die Frage, welchen „Meininger Bezug“ die Ausstellung hätte herstellen können. Märchen wären eine Brücke zu „Grass in Meiningen“ gewesen. Leider ist diese Chance verpasst worden.
So bleibt eine bemerkenswerte flüchtige Ausstellung in Meiningen über ein pralles Lebenswerk eines berühmten Autors und Künstlers zurück. Wer Zeit und Lust hat, sollte vielleicht nach Lübeck ins Grass-Haus fahren. Dort ist gerade die neue Dauerausstellung „Das ist Grass“ eröffnet worden. Oder Besucher greifen zu einem Buch von Grass, immer wieder lesenswert.
* Den Text habe ich Mitte April 2022 geschrieben, nachdem die Ausstellung eröffnet war. Der Beitrag wird hier, leicht bearbeitet, erstmals online frei zugänglich veröffentlicht.