Mythos und Gottvater der Moderne

Er hat dick aufgetragen. Er spielte mit Farbe und Licht. Er malte sich immer wieder selbst. Er war zu Lebzeiten ein Unbekannter. Er wurde zu einem Mythos der deutschen Moderne und weltweit: der Maler Vincent van Gogh.

Über den Main in Frankfurt ins Städelmuseum zu Vincent van Gogh.

Zu „Gottvater“ geht’s die Stufen abwärts im Städelmuseum in Frankfurt am Main. Sie haben erstmals die Gartenhallen für diese Ausstellung der Superlative freigeräumt. Sie wurde am Längsten geplant: fünf Jahre. Sie ist die Aufwändigste: in jeder Beziehung. Sie ist die Teuerste in der über 200-jährigen Geschichte des Museums: geschätzt ca. fünf Millionen Euro.

Die Ausstellung „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“ erzählt, wie der niederländische Maler, den manche für einen Franzosen halten, in Deutschland bekannt und durchgesetzt wurde: bei Sammlern und Galeristen, in Museen und Ausstellungen, durch deutsche Künstler und Kunstkritiker. Heute würde diese Geschichte, die vor reichlich 100 Jahren spielte, als ein „Hype“ gelten. Im Städelmuseum präsentieren sie einen Megaseller.

Farben dick aufgetragen: Mohnblumenfeld von 1890 (Ausschnitt).

Vincent van Gogh (1853-1890) erscheint in dieser exzellenten Ausstellung in neuem Licht. Mit 50 zentralen Werken aus allen Schaffensperioden, darunter 43 Gemälden, werden in drei Ausstellungsteilen die Geschichten von Mythos, Wirkung und Malweise van Goghs erzählt. Dazu gehören 70 herausragende Werke von deutschen Künstlern der klassischen Moderne, die sich vom „Gottvater der Moderne“, so Museumsdirektor Philipp Demandt, beinflussen, inspirieren, ja faszinieren ließen. Wie ein Kleeblatt ist der Rundgang in den Gartenhallen angeordnet. Die Glücksmomente bei den Betrachtern der Bilder dürften über Stunden und noch viel länger anhalten.

Erstmal kein Bild verkauft
Erste Ausstellungen in Deutschland initiierte ab 1901 der Kunsthändler Paul Cassirer. Er zeigte in seiner Berliner Galerie 19 Gemälde von Vincent van Gogh und verkaufte erstmal kein einziges Bild. Der Kunstkritiker und Autor Julius Meier-Graefe hatte Cassirer vermutlich auf van Gogh aufmerksam gemacht. Johanna van Gogh-Bonger (1862-1925), die Frau von Vincents Bruder Theo van Gogh (1857-1891), kümmerte sich um den künstlerischen Nachlass, knüpfte Kontakte zu Galeristen, vermarktete die Bilder, veröffentlichte bei Bruno Cassirer den Briefwechsel der Brüder. In Deutschland fielen ihre Bemühungen auf besonders fruchtbaren Boden.

Vincent selbst gemalt. Und Max Beckman Selbstporträt. Irgendwie inspiriert.

Zu den in Deutschland ab 1901 ausgestellten Bildern, die jetzt im Städel zu sehen sind, gehören späte Selbstporträts, darunter jenes Herausragende „Vincent van Gogh“ von 1887, das Coverbild des vorzüglichen Katalogs. Hinzu kommen Stadtlandschaften und Stillleben, Naturräume und das Leben einfacher Leute, immer wieder Porträts, die Vincent ganz eigensinnig und jenseits akademischer Vorbilder malte. Die Gemälde van Goghs aus den Museen der Welt, in den jeweiligen Sammlungen alles Hauptwerke, sind nach 100 Jahren in Frankfurt vereint. Provenienzen und die ersten Ausstellungen der Bilder in Deutschland sind akribisch recherchiert und dokumentiert worden. Das ist ein wesentlicher Gewinn der Ausstellung: neue Forschungsergebnisse über Person und Werk, die ein neues Licht auf Vincent van Gogh werfen.

Kunst-Thriller „Finding van Gogh“
Frankfurt und das Städelmuseum haben eine besondere Beziehung zu dem Maler. Die ersten beiden Werke kaufte der Museumsverein 1908. Das Gemälde „Bauernhaus in Nuenen“ (1885) und die Zeichnung „Kartoffelpflanzerin“ (1885) sind selbstverständlich zu sehen. 1911 folgte ein Hauptwerk, das „Bildnis des Dr. Gachet“ (1890), das zu einer Ikone des Museums wurde. In der Ausstellung ist nur der leere Bilderrahmen zu sehen. Die Geschichte, wie es dazu kam, gleicht einem Kunst-Thriller, zu erfahren vor Ort und in einem fünfteiligen Podcast „Finding van Gogh“. Erzählt wird die unglaubliche Geschichte über Auftauchen und Verschwinden eines der berühmtesten Werke von van Gogh, das weltweit im Bildgedächtnis von Kunstfreunden abgespeichert ist. Das Städelmuseum wollte das Bild vom heutigen privaten Besitzer in der Schweiz ausleihen. Vergeblich. Es war letztmalig am 15. Mai 1990 in London bei der legendären Auktion von Christie´s öffentlich zu sehen, wo es für den damaligen Rekordpreis von 82,5 Millionen Dollar versteigert wurde.

Leerer Rahmen. Das „Bildnis desDr. Gachet“ ist nicht ausleihbar.

Eine andere Geschichte spielte in Dresden. Am 7. Juni 1905 gründeten die jungen Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff u. a. die Künstlergruppe „Die Brücke“. Sie sahen im Herbst in der Galerie Ernst Arnold die erste Ausstellung mit Werken van Goghs, die sie offenbar ganz stark beindruckte und beeinflusste. Explodierende, kontrastierende Farben, der direkte Farbauftrag aus der Tube auf die Leinwand, vereinfachte, reduzierte Formen bestimmten Bilder von Brücke-Künstlern. Andere wie Max Pechstein und Erich Heckel gingen freier mit dem Vorbild um. Der Besucher kann das im Städelmuseum sehr gut in einem Saal mit Gemälden von Kirchner und Kollegen nachvollziehen. Das Dresdner Kapitel mit der Rezeption van Goghs durch „Die Brücke“, durch Sammler und Museen wird erhellend und differenziert im Ausstellungskatalog beschrieben. Binnen zehn Jahren fanden vier Personal- und fünf Gruppenausstellungen statt. Dresden ist ein Ort von mehreren, wie van Gogh und die Moderne in Deutschland, bei allen Widerständen und Vorbehalten, durchgesetzt wurden.

Die Frankfurter Ausstellung lässt Besucher durch eine Welt von Bildern flanieren, die vielfach Bezüge zueinander aufweisen. Das sind Sujets und Malweisen, van Goghs Wirkung auf andere Maler und umgekehrt, Ausstellungen von 1900 bis 1914, erste Sammler sowie Fälscher der Bilder, der Kunstmarkt früher und heute. Betrachter können sich der reinen Schaulust hingeben, wenngleich der freie Blick auf die Werke vermutlich nicht immer möglich ist.

Digitale Vermittlungsangebote nutzen
Der Ansturm in die Ausstellung hat begonnen. Eine Eintrittskarte sollte vor dem Besuch online gekauft werden. Das digitale Vermittlungsangebot des Städelmuseums ist sehr empfehlenswert: Digitorial, App, Blog, der erwähnte Podcast. Ganz analog gibt’s Führungen durch die Ausstellung und ein üppiges Rahmenprogramm. Der Katalog ist ein Schwergewicht in jeder Beziehung.

Die Ausstellung „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“ ist eine sinnliche, intellektuelle Verführung für alle, die große Kunst mögen. Und natürlich für Liebhaber.

Der Text erschien zuerst gedruckt in der Tageszeitung Freies Wort
und online insüdthüringen.de. Alle Fotos/Screenshot: miplotex

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