Steinerne und digitale Wartburg

Die letzten Meter zu Fuß führen Besucher über die Brücke und das steinerne Portal in den ersten Hof der Wartburg. Der virtuelle Besucher kann über das Internetportal bereits jetzt einen virtuellen 360-Grad-Panorama-Rundgang durch die wichtigsten Orte der Wartburg unternehmen.

Aus dem Archiv nach dem 7. Thüringer Kulturforum. Screenshot: miplotex

„Die Digitale Wartburg“ wird künftig „Live-Besuchern“, also jenen vor Ort oben auf dem Berg, noch viel mehr bieten: Eine Live-App für ihr Smartphone oder Tablet. Mit der können sie ganz nach ihren individuellen Interessen und Wünschen die Burg erkunden, erleben und erobern. Mit Bildern, Videos, Animationen, Tönen und Texten, mit Spielen und Spaß-Elementen für die ganze Familie, für eilige Touristen und entspannt flanierende Burgexperten. „Die Digitale Wartburg“ ist das Projekt, das Burghauptmann Franziska Nentwig und ihr Team mit IT-Manager Jens Fischer jetzt starten, um auch künftig möglichst viele Besucher auf die Wartburg zu locken.

Auratisches Erlebnis
Denn das gehört zum Grundverständnis der Frau Burghauptmann und vieler Museumsexperten: Die digitale Transformation von Kulturinstitutionen, die digitalen Angebote für ein diverses Publikum sollen eine Brücke bauen zum Besuch vor Ort. Ziel ist die eigene Anschauung und Erfahrung von Menschen, was auf der Wartburg und anderswo physisch und haptisch, zum Sehen und vielleicht Berühren, zum sinnlichen Wahrnehmen mit Augen und Ohren und Nase und … geboten wird. Manche nennen das immer noch die „Aura“ des Ortes oder Kunstwerkes, das auratische Erlebnis, wie es vor fast 90 Jahren der Philosoph Walter Benjamin postulierte: Das Einmalige und Echte, das durch seine technische Reproduzierbarkeit scheinbar verloren geht.

Franziska Nentwig und Jens Fischer hielten ihren Vortrag kürzlich in Jena während des 7. Thüringer Kulturforums vor einem Fachpublikum aus Museen, Bibliotheken, Theatern, der Denkmalpflege, aus Verwaltungen und weiterer Akteure aus Kultur- und IT-Institutionen, ca. 100 Menschen. Die Einladung aus der Thüringer Staatskanzlei und der Digitalagentur Thüringen schien aber in Südthüringen nicht angekommen oder zur Kenntnis genommen worden zu sein. Südthüringer fehlten vor Ort in Jena beim Treffen führender Kulturmacher des Landes.

Digital viel aufholen
Das UNESCO-Welterbe Wartburg ist täglich (!) geöffnet. Es ist Museum, Lern- und Bildungsort, Wissenschaftsbetrieb und mittelständisches Unternehmen. Jährlich kommen über 400.000 Besucher, darunter 20 Prozent internationale Gäste. Digital hat die Wartburg viel aufzuholen. Die IT-Infrastruktur muss dringend modernisiert werden: Ein neues Netz mit Glasfaseranschluss, Hardware (30 Computerarbeitsplätze für 50 Mitarbeiter) und einheitliche Software sind nur einige Aufgaben. Die Finanzierung dafür scheint noch ungeklärt zu sein.

Die App für Live-Besucher ist ein großes Projekt. Ein anderes ist die Digitalisierung der Fotothek der Wartburg mit über 50.000 Vorlagen unterschiedlichster Materialität, beginnend im 19. Jahrhundert. Die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena ist als Kooperationspartner im Boot. Sie hat sich mittlerweile zum Kompetenzzentrum „Digitalität in der Kultur in Thüringen“, zum Impulsgeber und Treiber von Projekten etabliert. Die digitalisierten Fotos der Wartburg ermöglichen künftig Zeitreisen in die Geschichte mit zusätzlichen und verknüpften Informationen über das einzelne Objekt hinaus. Der Bilderschatz wird sichtbar und frei zugänglich für das digitale Publikum.

Gotha transdigital 2027
Unter dem Titel „Gotha transdigital 2027“ läuft in der Stiftung Schloss Friedenstein seit 2020 das größte Digitalprojekt einer Kulturinstitution in Thüringen. Europa, Bund und Land investieren rund 28 Millionen Euro in die Transformation der Stiftung in eine „digital kompetente Museumseinrichtung“. Allein 15 Forschungsprojekte sind angeschoben, neue Mitarbeiter eingestellt worden. Stiftungsdirektor Tobias Pfeifer-Helke will der Kunst- und Wunderkammer aus dem 17. Jahrhundert, ein Kernbestandteil der Gothaer Sammlungen, eine Wunderkammer 4.0 des 21. Jahrhunderts hinzufügen. Digitalisierte Kunst- und Kulturobjekte sollen künftig in bisher nicht gekannten Zusammenhängen und Kontexten präsentiert werden. Bereits jetzt können ausgewählte 3D-Digitalisate von Nutzern im Netz von „allen Seiten“ in Augenschein genommen werden, was in einer klassischen Museumsausstellung nicht möglich ist. Künftig kann sich der Nutzer seine digitale Kunstkammer selbst zusammenstellen.

Der digitale Wandel kommt in der Thüringer Kultur unterschiedlich schnell voran. Gerade die Krisen der letzten Jahre hätten zu einem digitalen Schub geführt, stellte Kulturminister Benjamin Hoff in Jena fest. Er wollte vor allem Chancen und Potenziale thematisieren, weniger Risiken und Probleme ansprechen. Ja, man müsse auch über Geld reden. Auf dem Kulturforum passierte das nicht. Digitalisierung brauche „die richtigen und guten Leute“, müsse „von den Nutzern her gedacht werden“, Fehler machen und Scheitern gehöre dazu. Das solle auch bei geförderten Projekten möglich sein, wagte sich der Kulturminister aus der Deckung.

Fehlendes Internet, Funklöcher, Ressourcenverbrauch
Ein bisschen Zeit blieb, um in Kleingruppen über Stärken und Schwächen, Chancen und Gefahren von Digitalität in Kultureinrichtungen zu sprechen und in Schlagworten aufzuschreiben: Menschen können sich über Raum und Zeit hinweg verbinden. Hohe Motivation und hohe Förderquote sind Antreiber. Schnelle Verfügbarkeit von Informationen. Fehlende Internetanbindung, Funklöcher, zu viele Portale. Algorithmen übernehmen Kontrolle. Ressourcenverbrauch von Digitalität, vor allem Energie und seltene Rohstoffe.

Überforderungsbewältigungskompetenz
Zum Abschluss des Kulturforums eine „liebevolle Irritation für neue Perspektiven“ in der Thüringer Kultur. Jede Menge Bilder, Worte und Fakten, im Eilzugtempo vorgetragen vom Digitalexperten Björn Stecher. 38 Prozent der Menschen fühlen sich überfordert von Dynamik und Komplexität der Digitalisierung. 14 Prozent unterscheiden nicht mehr analog und digital, offline und online. Beim Digital-Index D21 liegt Deutschland mit dem Wert 63 (von maximal 100) irgendwo in der Mitte. Das ist sozial und nach Alter ganz differenziert. Motivationen für das Internet: Der Nutzen für den Einzelnen, einfache Nutzung, wenn andere zeigen, wie das funktioniert. Das Wortungetüm mit 35 Buchstaben lautet: Überforderungsbewältigungskompetenz.

Zum Schluss die streitbare These: Kultur ist der Hebel für erfolgreiche und wertebasierte digitale Transformation in Deutschland. Die Debatte über „Digitalität in der Kultur“ geht weiter. Die Einladungen nach Südthüringen kommen dann hoffentlich an.

Aus dem Archiv: Erstveröffentlicht am 03. Dezember 2022.

Am 29. Juni 2023 will Kulturminister Hoff in Erfurt auf dem 8. Thüringer Kulturforum die „Digitalstrategie für die Thüringer Kultur“ vorstellen.

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