Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird. Öffentliche Kulturfördermittel sind in Thüringen knapp. Die Landesregierung macht damit Kulturpolitik.
Der Politikwissenschaftler Michael Flohr, Jahrgang 1985, untersucht in seiner Studie „Kulturpolitik in Thüringen. Praktiken – Governance – Netzwerke“ ein weithin unbeackertes Feld. Das Buch beruht auf seiner 2017 an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt angenommenen Dissertation. Der Autor hofft im Vorwort, „dass die Ergebnisse dieser Analyse eine kontroverse Diskussion“ auslösen und dazu einladen, „den konstruktiven Dissens zu suchen“. Die wissenschaftliche Analyse der Kulturpolitik in Thüringen, insbesondere seit 2014, und die Schlussfolgerungen von Flohr bergen eine Menge Potenzial für Meinungsstreit und Widerspruch.
Kulturkonzepte
Kulturpolitik in Deutschland seit 1945 in der DDR, in der BRD und im vereinten Deutschland wird kursorisch referiert und reflektiert. Marginal erwähnt der Autor das Kulturkonzept des Freistaats Thüringen von 2012 und exemplarisch für die kommunale Ebene das Strategische Kulturkonzept der Landeshauptstadt Erfurt von 2012. Eine wissenschaftliche Analyse und Bewertung konzeptioneller Grundlagen der Kulturpolitik in Thüringen, soweit sie vorhanden sind, erfolgt nicht. Ein kulturpolitisch brisantes und immer wieder diskutiertes Thema wird ebenfalls ausgeklammert: Kultur als mögliche Pflichtaufgabe der kommunalen Ebene.
In seinem Selbstverständnis versteht sich Thüringen als ein Kulturland. Das ist mit vielen Begriffen belegt: Kernland der Reformation, Deutsche Klassik, Land der Residenzen, Geburtsstätte des Bauhauses, künftig vielleicht Land der Industriekultur, von dem Innovationen ausgingen und gehen. Das hat Konsequenzen für die Landeskulturpolitik, insbesondere für die öffentliche Kulturförderung.
Kulturförderung
Darüber diskutieren Kulturpolitker, kulturpolitischen Akteure und die interessierte Öffentlichkeit alle Haushaltsjahre wieder. Fakt ist und das hat Flohr akribisch dokumentiert: Die öffentliche Kulturförderung in Thüringen ist, pro Kopf der Bevölkerung, eine der Höchsten in Deutschland. Die absoluten Ausgaben stiegen seit 1992 nur marginal, was einer inflationsbereinigten Kürzung gleichkommt. Die Theater und Orchester genießen in der öffentlichen Förderung kulturpolitisch Priorität. Hier scheiterten mehr oder weniger alle kulturpolitischen Bemühungen, die Förderpraxis grundlegend neu zu justieren.
In der aktuellen kulturpolitischen Diskussion verweist die Thüringer Landesregierung auf die ab dem Jahr 2020 beabsichtigte dauerhafte Erhöhung der Finanzzuweisungen des Landes an die kommunale Ebene um100 Millionen Euro jährlich. Davon solle ein Teil in die kommunale Kulturförderung fließen. Michael Flohr erinnert an das Thüringer Finanzausgleichsgesetz von 2003, das eine ähnliche Zweckbindung vorsah und vom Thüringer Verfassungsgerichtshof 2005 kassiert wurde. Die Kommunen entscheiden frei über die Mittelvergabe, auch für Kultur. Bei angespannter kommunaler Haushaltslage wird oft bei der „freiwilligen Aufgabe“ Kultur zuerst gekürzt. Das ist kulturpolitische Praxis.
Die Bestandsaufnahme der Landeskulturpolitik umfasst von den Archiven bis zu den zoologischen Gärten alle Bereiche. Zum Beispiel die Museen, Gedenkstätten und Stiftungen. Bekannte Probleme werden analysiert: die prekäre personelle und finanzielle Ausstattung, Sammlungskonzepte, Restaurierungsbedarf, Museumspädagogik, Öffentlichkeitsarbeit. Der wissenschaftlich-analytische Blick von Michael Flohr führt zu Bewertungen wie diesen: „Der Museumsverband nimmt für die Landesregierung eine besondere Stellung ein: Die Regierung ist eng mit ihm verwoben, vertraut offenbar seiner fachlichen Expertise und beräht mit ihm monatlich die Entwicklung und Probleme der Thüringer Museen.“ Der Autor konstatiert, dass „wichtige Akteursgruppen“, Landeskulturverbände und Landesregierung, „miteinander verschmelzen“, das „schmälert die Unabhängigkeit von exekutivem und Verbandshandeln“.
Kulturexperten
Die Ergebnisse der empirischen Erhebungen von Michael Flohr umfassen eine Online-Umfrage, an der sich 143 eingeladene Akteure beteiligten, sowie 30 Experteninterviews mit führenden, einflussreichen kulturpolitischen Akteuren. Hier gab es Absagen bzw. keine Reaktionen vor allem von Akteuren aus staatlichen, öffentlich-rechtlichen und kommunalen Institutionen und Stiftungen sowie von Medien. Das macht deutlich, je enger die Abhängigkeiten zu öffentlichen Geldgebern, desto weniger auskunftsbereit waren die Angefragten.
Aus dem Experteninterview mit Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff hebt Flohr dessen Selbstverständnis hervor: intervenieren und gestalten, aber fern von Inhalten, proaktiv kommunizieren und partizipativ handeln. Sein Handeln richtet sich auf die finanziellen und infrastrukturellen Rahmenbedinungen. An anderer Stelle in seiner Studie schreibt Flohr in einer Fußnote: „Wenn in den Medien oder in Gesprächen von kulturpolitischen Problemen berichtet wird, versucht Hoff einen direkten Kontakt zu den Betroffenen aufzubauen, was bereits entschärfend auf die Situation wirkt und die Betroffenen dazu bewegt, künftig zuerst den Kontakt zum Minister zu suchen.“
Kulturkommunikation
Unter den Stichworten Interaktion und Information beschreibt Flohr die praktizierten Formen von Kommunikation zwischen Kulturakteuren, Landesverwaltungen (mehrere Ministerien bearbeiten das Feld der Kultur) und den wenigen Landeskulturpolitkern. Hier wird nach den Experteninterviews deutlich, dass sehr viele Kontakte und Gespräche informell, jenseits öffentlicher Wahrnehmung und Aufmerksamkeit gepflegt und geführt werden. Das überrascht nicht. Das öffentliche, mediale Interesse und die Berichterstattung über Kulturpolitik flammen immer dann auf, wenn Konflikte oder gegensätzliche Positionen offen thematisiert werden. Die seit den 1990er-Jahren in Thüringen geführten öffentlichen Diskussionen über Theater und Orchester und die damit einhergehenden öffentlichen Proteste und Aktionen sind ein Beleg dafür.
Der Politikwissenschaftler provoziert pointiert mit seiner Doktorarbeit, formuliert eigene Positionen, belegt und begründet sie mit nachvollziehbaren Argumenten und Erkenntnissen.
Erstens:
Macht und Einfluss in der Kulturpolitik begrenzen sich auf einen eng mit der Exekutive, der Landesregierung, verwobenen Kreis von Akteuren.
Zweitens:
Wenige Kultureinrichtungen erhalten den Großteil der öffentlichen Kulturförderung primär aus tradierter Gewohnheit.
Drittens:
Kulturpolitischer Dreh- und Angelpunkt ist die Achse Landeshauptstadt Erfurt und Kulturhauptstadt Weimar.
Viertens:
Kulturpolitik ist auf Besitzstandswahrung ausgerichtet, sie zeigt eine geringe Veränderungsbereitschaft und schaut pessimistisch in die Zukunft.
Fünftens:
Kulturpolitik ist komplex und konfliktbeladen, sie überfordert letztlich kulturpolitische Akteure.
Das Resümee von Michael Flohr ist deutlich: Kulturpolitik in Thüringen „befindet sich in einer systemimmanenten Sinn- und Strukturkrise“.
Das Buch
Michael Flohr
Kulturpolitik in Thüringen. Praktiken – Governance – Netzwerke.
Bielefeld: transcript Verlag, 2018, 398 Seiten
Preis: 29,99 EUR
ISBN: 978-3-8376-4255-1
Dieser Text erschien zuerst im Feuilleton der Tageszeitung Freies Wort und online insuedthueringen.de