Der unbekannte Feininger

Er gehört zu den herausragenden Künstlern und Lehrern am Weimarer und Dessauer Bauhaus. Zum 100. Jubiläum der berühmten Kunst-, Design- und Lebensschule präsentiert das Kunsthaus Apolda vor allem den unbekannten Feininger.

Früher Feininger: Der Viadukt, 1911, Tusche und Gouache auf Papier.

Na so was! „Alarm in der Kleinstadt“ und „Das verhängnisvolle Automobil“ lenken die ersten Blicke von Besuchern auf sich. Plakate, Karikaturen und Comics aus dem frühen Schaffen von Lyonel Feininger (1871-1956) eröffnen die Ausstellung im Kunsthaus Apolda anlässlich des 100. Geburtstages des Bauhauses. Der amerikanische Künstler lebte 50 Jahre in Deutschland und Europa, studierte an Kunstakademien und bei Privatlehrern in Hamburg, Berlin und Paris. Als junger Mann verdiente er seinen Lebensunterhalt als Karikaturist und Zeichner mit Aufträgen für deutsche und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften.

Aus dieser Schaffensphase Feiningers um die Jahrhundertwende um 1900 stammen die frühesten Arbeiten in Apolda. Die Ausstellung „Traumstadt. Lyonel Feininger und seine Dörfer“ umfasst rund 90 Arbeiten: Karikaturen, Comics, Aquarelle, Druckgrafiken, sogenannte Naturnotizen und sechs Gemälde aus den Jahren 1890 bis 1955. Die Ausstellungskuratoren Andrea Fromm und Tom Beege konnten internationale Museen und Sammlungen in den USA und Europa davon überzeugen, Leihgaben auf Zeit in die Kleinstadt Apolda zu schicken. Das ist im Bauhaus-Jubiläumsjahr schon ein Erfolg an sich.

Vor 20 Jahren, zum 80. Geburtstag des Bauhauses, gelang dem Kunsthaus Apolda mit der Ausstellung „Feininger im Weimarer Land“ ein Aufsehen erregender Donnerschlag in der Kunstwelt. Erstmals waren Feiningers Motive aus dem verwunschenen Landstrich um Weimar herum so umfassend und in einer so herausragenden künstlerischen Ausformung zu sehen. Dafür standen und stehen beispielhaft das Dorf Gelmeroda bei Weimar und die Feininger-Kirche. Der spitze Turm der Dorfkirche, durch Feininger weltberühmt geworden, ist von der Autobahn 4 aus heute noch zu sehen. Gelmeroda und andere Dörfer im Weimarer Land prägten als immer wiederkehrende Motive und Sujets das lebenslange künstlerische Schaffen Feiningers, wurden so zu einem Mythos. Der sensationelle Erfolg der damaligen Ausstellung ist 20 Jahre danach nicht zu toppen.

Die frühen zeichnerischen Arbeiten von Feininger, die jetzt in Apolda zu sehen sind, reflektieren und kommentieren satirisch, weniger sozial-kritisch, den Umbruch um 1900 im Alltag der Menschen. Neue Technologien und Produkte im Automobilbau, Elektrizität, moderne Kommunikationsformen und eine zunehmend dynamischere Entwicklung der Gesellschaft forderte und überforderte viele Leute. Für das Berliner Satire-Magazin „Lustige Blätter“ bildete Feininger den Alltag der Menschen ab. Der „Alarm in der Kleinstadt“ illustriert eine nächtliche Razzia der Polizei im Rotlicht-Milieu. „Das verhängnisvolle Automobil“ fährt über eine Berliner Straßenkreuzung voller hastender Menschen und anderer Fahrzeuge, überfährt einen Passanten. So viel Bewegung und Unruhe war nie zuvor.

Bleistiftzeichnung (Apolda, Viadukt) von 1913.

Ein Aha-Effekt ist im Kunsthaus Apolda am ersten Besuchstag zu erleben. Die frühen Illustrationen und Karikaturen – das ist auch Feininger? Denn der Erwartungshaltung, vor allem Feiningers Motiven aus dem Weimarer Land zu begegnen, vielleicht etwas wieder zu sehen, kann die Ausstellung in Breite und Qualität nicht gerecht werden. Trotz alledem, der Besuch lohnt sich. Da hängen einzelne Motivgruppen und Gemälde, die Feiningers lebenslange Verbundenheit mit dem Weimarer Land, seinen Dörfern und Kirchen dokumentieren. Eine Gelmeroda-Reihe gehört dazu: erste Skizzen mit Dorfansichten von 1906, als Feininger erstmals Weimar und seine Freundin (und spätere Frau) Julia Berg besuchte. Das Gemälde „Gelmeroda IV“ von 1915 ist das herausragende Werk in der Reihe. Die kubistisch-prismatische, transparente Formensprache, für die Feininger berühmt ist, kommt hier deutlich zum Ausdruck.

Ein Jahr später, 1916, malte Feininger das Gemälde „Grüne Brücke II“, das ebenfalls in Apolda zu sehen ist. In seinem expressiv-farbigen Duktus, seiner Figurenüberhöhung und Dynamik, assoziiert es die Bildsprache von Ernst Ludwig Kirchner. Von der „Brücke IV“, das Motiv spielt in Weimar, funkeln die prismatischen Formen wie ein nächtliches Wetterleuchten. Das Gemälde stammt aus der Sammlung des Kirchner-Museums in Davos, was für ein schöner Zufall. Förmlich geblendet wird der Besucher von einem „Dorf“, Markvippach, im Weimarer Land. Das kleinformatige Gemälde von 1927 leuchtet und strahlt in sich auflösenden Formen und Farben, ein glänzendes Juwel in der Ausstellung.

Comic-Strip-Serie von Lyonel Feininger, offensichtlich Faksimiles.

Die „Traumstadt“, eine futuristische Stadtlandschaft, eine Radierung von 1911, und Dorfansichten aus dem Weimarer Land prägen die Ausstellung. Hinzu kommen Paris-Szenen auf Papier und zwei Comic-Strip-Serien für amerikanische Zeitschriften, offensichtlich Faksimiles, aber nicht als solche gekennzeichnet. Die Bandbreite der Motive und künstlerischen Ausdrucksformen bei Feininger in der Ausstellung ist enorm.

Die letzte Zeichnung, etwas größer als ein A4-Blatt, überrascht und doch nicht. Die Ansicht von „Mellingen“ im Weimarer Land, eine Tusche-Zeichnung aquarelliert, ist auf der Vorderseite des Blattes gut sichtbar auf den „6. VI. ´55“ datiert, ein halbes Jahr vor dem Tod Feiningers in New York. Er behielt die Landschaft, die Dörfer und Kirchen um Weimar herum lebenslang in seinen Skizzenbüchern, im Bildgedächtnis und im Herzen. Das Blatt gehört der Gemeinde Mellingen. Es war schon in der Apoldaer Ausstellung 1999 zu sehen.

Ausstellung läuft bis 15.12.2019
im Kunsthaus Apolda Avantgarde
geöffnet Di-So 10-17 Uhr
Katalog, 192 Seiten; 19,90 Euro

Der Text erschien zuerst in der Tageszeitung Freies Wort, Printausgabe und ePaper.
Fotos / Screenshot: miplotex

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