Allein gelassen in „Überland“

Bauhaus Weimar? Schon mal gehört. Lyonel Feininger? Vielleicht. Erich Drechsler? Keine Ahnung, wer das ist. Die Ausstellung in Schmalkalden „Überland. 100 Jahre Kunst in Thüringen“ verliert ihre Besucher komplett aus dem Blick, die mehr als nur Bilder sehen wollen.

Da geht´s rein: Im Schlosshof der Wilhelmsburg Schmalkalden.

Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden ist in den Schulferien im Oktober 2020 gut besucht. Vor allem Touristen flanieren durch das Schloss. Einige schaffen es durch mehrere Räume bis zum ersten Teil der Ausstellung „Überland“. 100 Jahre Kunstentwicklung in Thüringen sollen spannend vermittelt werden. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe für Ausstellungsmacher.

Leider erzählt diese vierteilige Ausstellung an vier Orten in Schmalkalden keine Geschichten über Kunst, Künstler und Kunstentwicklungen im Kontext der letzten 100 Jahre seit der Gründung des Freistaates Thüringen. Eine Idee, ein Konzept oder eine spannende Ausgangsfrage hat diese Ausstellung nicht zu bieten. „Überland“ scheitert, weil der Schmalkalder Kurator überfordert ist. Die kuratorischen Berater aus wichtigen Kunstmuseen in Thüringen hätten das Projekt selbst realisieren müssen. Die Fördermittelgeber haben offenbar nicht nachgefragt, wofür das Geld ausgegeben werden soll.

Chronologisch. Stichworte. Namen. Rundgang in der Wilhelmsburg.

Der Ausstellungsrundgang ist zeitlich-chronologisch aufgebaut, oft mehrere Dezennien hintereinander, beginnend 1919 mit der Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar. Jedem Ausstellungsteil vorangestellt ist ein Werbebanner mit Jahreszahlen, mit Schlagworten aus der Kunstgeschichte und mit Künstlernamen. Der erste Ausstellungsraum in der Wilhelmsburg soll mit mehr oder weniger bekannten Namen vermutlich ein Feuerwerk entzünden. Schon hier steht der interessierte Besucher, der kein Kunstkenner ist, ratlos und allein gelassen vor Bildern und Skulpturen von Otto Dix, Gerhard Marcks, Karl Peter Röhl, Hans Walther und Erich Drechsler. Jedes Kunstwerk könnte eine Geschichte erzählen: über seine Entstehung, den biografischen, kunsthistorischen und gesellschaftlichen Kontext, seine ikonografische Deutung. Und vor allem: Warum gehört dieses Kunstwerk in diese Ausstellung in Schmalkalden? Das alles passiert nicht.

Knappe Informationen zu allen ausgestellten Exponaten an allen Ausstellungsorten sind ein Armutszeugnis für den Ausstellungsmacher. Ursprünglich angebotene regelmäßige Führungen gibt es nicht. „Da rufen Sie doch bitte vorher an. Wenn der Kurator Zeit hat, klappt das“, so die freundliche Auskunft an der Museumskasse in der Wilhelmsburg. Auf dem Ausstellungsplakat angekündigte Begleitveranstaltungen? Ebenfalls Fehlanzeige.

Besucher fragen in der Ausstellung: Was ist das für eine verdorrte Sonnenblume? Was ist das für ein kitschig anmutendes Porträt? Was ist das für eine Totenszene auf dem Bild? Vier grafische Blätter der Bauhausmeister Klee, Feininger, Itten und Schlemmer bleiben fast unbeachtet. Der Autor dieser Zeilen stellt sich die bange Frage nach Licht und Luft in der Ausstellung, im Schlossmuseum und an den anderen Orten. Grafiken sind sehr lichtempfindlich, Kunstwerke vertragen nicht allzu viel Luftfeuchtigkeit. Die Frage scheint aber nirgendwo eine Rolle zu spielen.

Treppe hoch, mit der Nase draufstoßen auf das „Porträt nach Dienst“ von Horst Sakulowski.

Im Otto Müller Museum der Moderne am Markt in Schmalkalden sind wir die einzigen Besucher während der dreiviertel Stunde Besichtigung. Das Licht können wir selbst anknipsen. Auch hier geht es kunterbunt durcheinander durch die Kunstgeschichte seit 1950. Die meisten Künstler sind mit einem Werk vertreten, ohne jeglichen persönlichen und oft politischen Kontext. Alfred Traugott Mörstedt, nur ein Beispiel, war ein prägender Künstler in der DDR-Zeit, der phantasievoll und subversiv den Alltag reflektierte, zu den Mitbegründern der Künstlergruppe „Erfurter Ateliergemeinschaft“ gehörte. Zwei kleine Bilder von ihm sind in eine Ecke neben einer Treppe verbannt. Vier grafische Blätter von vier Künstlern der Ateliergemeinschaft hängen zusammenhangslos da und dort. Die Geschichten werden nicht erzählt. Das berühmte „Porträt nach Dienst“ von Horst Sakulowski hat in der DDR Kunst- und Rezeptionsgeschichte geschrieben. Nichts davon erfährt der Besucher in der Ausstellung.

„Hundemann“ von Volkhard Kühn mit Fahrrad im Treppenhaus der „Kunst-Etage“.

Um die Ecke liegt das ehemalige Postgebäude. Das Obergeschoss ist renoviert, die „Kunst-Etage Alte Post“ eingerichtet worden. Wir sind am frühen Nachmittag die Besucher Nummer 4 und 5. Wieder dominieren Tafelbilder, oft große Formate, Einzelstücke von anerkannten Thüringer Künstlern. Die Jahre 1980 bis 1999 werden abgebildet, ist dem inhaltlich und auch sonst sehr dünnen Faltblättchen zu entnehmen. Was waren das politisch und künstlerisch für Jahre im heutigen Thüringen? Da gibt es einen spannungsgeladenen Raum mit der Videoinstallation von Verena Kyselka. Das sind fünf Bildschirme, auf denen gleichzeitig Konzerte, Theater und Performances aus dem Untergrund, aus den wilden Jahren der Agonie, des Umbruchs und Aufbruchs zu sehen sind: anarchisch und aufrührerisch, explosiv und experimentell. Eine hohe Holzskulptur steht im nächsten Raum irgendwie verloren herum. Eine neue abstrakte Arbeit von Beate Debus, entstanden im Jahr 2019. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die zeitlich-chronologische Reihung der Kunstobjekte immer wieder durchbrochen wird und als kuratorisches Konzept nicht taugt.

Benedikt Brauns „Jackpot“ und Ralph Ecks Stahlskulputur in der Totenhofkirche.

In der Totenhofkirche, dem vierten Ausstellungsort in Schmalkalden, entdecken wir beim einsamen Rundgang eine andere Skulptur von Beate Debus, verantwortungslos abgestellt hinter einer provisorischen Ausstellungswand. Die Kirche ist als Schau-Ort von moderner Kunst denkbar ungeeignet. Die diffusen Lichtverhältnisse und vor allem die offenbar hohe Luftfeuchtigkeit schaden auf Dauer den anfälligen Kunstwerken. Im Kirchenschiff und auf den zwei umlaufenden Galerien werden vor allem Absolventen der Bauhaus-Universität Weimar mit Arbeiten vorgestellt. Ralph Eck aus Ilmenau ist mit seiner bekannten blauen Stahlskulptur vertreten, die an einer Kante schon ein bisschen Farbe lässt. Die junge Künstlergeneration scheint wie zufällig hier versammelt. Da stürzt in Susann Maria Hempels experimentellem Video eine Welt ein. Joachim B. Schulzes Installation „Eigenkapitaldecke“ ist zu kurz geraten. Einen Höllenlärm verursacht Benedikt Brauns „Jackpot“ mit den 50.000 Cent-Münzen auf einem Förderband. Was wollen die jungen Wilden dem Besucher sagen?

Was bleibt von dieser Ausstellung „Überland“ übrig? Eine große Enttäuschung. Eine vergebene Chance. Eine Zumutung für Besucher, die mehr als nur Bilder sehen wollen.

Der Text erschien zuerst in der Tageszeitung Freies Wort (Print- und E-Paper-Ausgabe).
Er wird hier erstmals online veröffentlicht. Fotos/Screenshot: miplotex

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